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Jahrgang 2021, Ausgabe 1
Artikelaktionen

Netzwerk Zukunftsforschung

Globale Krisenlandschaften, die Zukunftsforschung und Entscheidungshilfen für die Politik

DiskursForum aus dem NZF

  1. Dr. Lars Brozus SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik
  2. Dr. Edgar Göll IZT - Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung
  3. Prof. Dr. Dr. Axel Zweck VDI Research
  4. Prof. Dr. habil. Heiko von der Gracht SIBE - Steinbeis School of International Business and Entrepreneurship
  5. Prof. Dr. Stefanie Kisgen SIBE - Steinbeis School of International Business and Entrepreneurship
  6. Kai Gondlach Zukunftsforscher
  7. Dr. Christian Neuhaus FUTURESAFFAIRS – Büro für aufgeklärte Zukunftsforschung

Keywords

1. Einführung

Moderne und wissenschaftlich fundierte Zukunftsforschung „lebt“ vom fachlichen Austausch theoretischer und konzeptioneller Entwicklungen und Erkenntnisse sowie von der Diskussion von Erfahrungen aus der vielgestaltigen Praxis. Dazu hat das NZF immer wieder Workshops durchgeführt, zuletzt zu der Daueraufgabe, die erarbeiteten Forschungsergebnisse gezielt an EntscheidungsträgerInnen und ZukunftsgestalterInnen in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sowie die interessierte Öffentlichkeit zu vermitteln. In dieser Kontinuität und diesem Spannungsfeld haben wir im Board des NZF in der Vorbereitung unserer JT im Herbst 2020 einen Vortrag eingeplant, und angesichts des Diskussionsbedarfs eine Veröffentlichung vorgesehen, und zwar in einem besonderen Design. In Anlehnung an die frühere Zeitschrift „Sozialwissenschaft & Ethik“ haben wir den Vortragenden, Dr. Lars Brozus (SWP) um eine Verschriftlichung seines Vortrages gebeten, dazu zu kurzen Repliken eingeladen, und abschließend Dr. Brozus um ein kurzes Resümee gebeten. All dies ist nun erfolgt, und mit dem Echo sind wir sehr zufrieden, denn nicht nur sind vier interessante und sehr unterschiedliche Repliken eingegangen, sondern mehrere weitere InteressentInnen mussten aufgrund von Zeitproblemen eine Einreichung absagen. Das lässt es wünschenswert und möglich erscheinen, dieses Format auch künftig in der ZfZ weiter zu pflegen, denn diskussionswürdige Themen über Zukünfte gibt es zuhauf. Hierzu wird die Redaktion beraten und sich bei Gelegenheit äußern.

Wir danken Dr. Brozus und den Mitwirkenden ganz herzlich und vermuten, dass die Thematik damit nicht abschließend „abgehandelt“ ist, und wünschen eine inspirierende Lektüre.

Dr. Edgar Göll für das NZF-Board

im April 2021

Inhalt:

  1. Essay von Dr. Brozus

  1. Replik 1: Prof. Dr. Dr. Axel Zweck

  1. Replik 2: Prof. Dr. Heiko von der Gracht & Prof. Dr. Stefanie Kisgen

  1. Replik 3: Kai Gondlach

  1. Replik 4: Dr. Christian Neuhaus

  1. Resümee Dr. Brozus

2. Essay

Dr. Lars Brozus, SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin

2.1. Globale Krisenlandschaften, die Zukunftsforschung und Entscheidungshilfen für die Politik

Zukunftsforscherinnen und –forscher sind Kummer gewöhnt. Vermutlich waren nahezu alle, die sich dieser Profession verschrieben haben, bereits öfter mit der Frage konfrontiert: „Warum habt ihr das nicht kommen sehen?“ Mir zumindest ist das als Analyst, der sich in der wissenschaftsbasierten Politikberatung an der SWP mit Vorausschau befasst, schon häufiger passiert. Dabei richtet sich die - oft mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton versehene - Frage gar nicht mal in erster Linie an die Spezialistinnen und Spezialisten für Theorie und Praxis der Vorausschau. Weit häufiger trifft sie die Fachkundigen für spezifische Sachfragen. Ich selbst habe mehrfach Kolleginnen und Kollegen, die sich mit einschlägigen Regionen und Themen befassen, gefragt, warum sie von unerwarteten Entwicklungen überrascht wurden: Vor zehn Jahren etwa die Analystinnen und Analysten, die sich mit dem Nahen und Mittleren Osten beschäftigen und zuletzt Anfang 2020 im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie die Fachleute für Gesundheit und Gesundheitspolitik. Dominierendes Motiv dabei war natürlich fachliche Neugier!

2.2. Überraschungen mit Folgen: Globale Krisenlandschaften

Kerngeschäft der SWP ist die Beratung von Administration und Parlament in außen- und sicherheitspolitischen Fragen auf der Grundlage eigenständiger wissenschaftlicher Forschung. Ein wichtiges Ziel: Entscheiderinnen und Entscheider frühzeitig auf denkbare Situationen aufmerksam zu machen, für die rechtzeitig Handlungsoptionen bereitstehen sollten. Das gilt vor allem für Krisen, die rasches Handeln der Politik notwendig machen, und dies unter Bedingungen von unvollständiger Information und bei unklaren Erfolgsaussichten. Angesichts der Vielzahl an Überraschungen auf internationaler Ebene, die die letzte Dekade geprägt haben, ist es absolut nachvollziehbar, dass unsere Partnerinnen und Partner in der Politik die oben angesprochene, recht unangenehme Frage auch an uns richten:

  • Die Schuldenkrise in der Eurozone erfasste ab 2010 mehrere Mitgliedsstaaten der EU. Als Gegenleistung für massive Stützungsmaßnahmen von Staatsbudget und Wirtschaft mussten ihre Regierungen tiefe Einschnitte in den jeweiligen Systemen sozialer Absicherung vornehmen. Die damit einhergehende Austerität entfremdete Teile der Bevölkerung von der Idee supranationaler Integration. Auch in einigen Geberländern artikulierte sich politischer Unmut über die Hilfsmaßnahmen.

  • Die Volksaufstände, die 2011 den Nahen Osten und Nordafrika erfassten, führten zwar zur Ablösung zahlreicher autoritärer Machthaber in der Region, etwa in Ägypten und Tunesien. Sie lösten aber auch langanhaltende Bürgerkriege in Jemen, Libyen und Syrien aus, in die regionale Nachbarn ebenso wie diverse Großmächte intervenierten. Unverkennbar dominiert bis heute die nationale Interessensverfolgung über die internationalen Bemühungen um Frieden.

  • 2014 annektierte Russland die Krim und unterstützt seither Aufständische in der Ostukraine auch mit militärischen Mitteln. Die territoriale Aggression führte zu einem anhaltenden Konflikt zwischen EU und NATO einerseits und Russland andererseits. Russlands Mitgliedschaft in der G8 wurde suspendiert, was die Kooperation in einer ganzen Reihe von globalen Fragen beeinträchtigt, etwa mit Blick auf die Bürgerkriege in Libyen und Syrien.

  • Der Sommer 2015 sah den Höhepunkt der Flucht- und Migrationskrise, die Menschen aus Nordafrika und dem Nahen Osten in Richtung Europa führte. In praktisch allen europäischen Staaten gewannen seither populistische Parteien und Bewegungen an Bedeutung. Diese hängen nationalchauvinistischen Ideen an, zeigen sich integrationsfeindlich und lehnen die liberale internationale Ordnung ab.

  • Im Juni 2016 entschieden die Brexit-Befürworter das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU für sich. Der Wahlkampf trug zu anhaltender Polarisierung der britischen Gesellschaft bei und machte populistische ebenso wie wissenschaftsfeindliche Positionen noch salonfähiger. Der nachfolgende Verhandlungsprozess über die Austrittsbedingungen band die Aufmerksamkeit der EU, die durch den Brexit weiter geschwächt wird.

  • Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 warb der republikanische Kandidat Donald Trump mit einer politischen Plattform für sich, die die programmatische Ablehnung multilateraler Kooperation einschloss. Nach seiner Amtsübernahme verließen die USA wichtige internationale Regime wie das Pariser Klimaabkommen und schwächten internationale Organisationen wie die UN.

  • Und aktuell die Corona-Pandemie, in der sich eine Krise globaler Konnektivität mit einer Krise globaler Governance verbindet. Anders als noch in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 findet multilaterale Kooperation kaum statt: Über Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wird auf nationaler Ebene entschieden, nicht international abgestimmt. Weder von den UN noch den G20 oder G7 gehen nennenswerte Steuerungsimpulse aus. Selbst innerhalb der EU schließen sich Grenzen teils ohne Ankündigung. Die Vernetzung der Welt offenbart einen gravierenden Mangel an Resilienz.

2.3. Herausforderung für die Zukunftsforschung?

Politische Akteure waren in den letzten Jahren permanent mit Ereignissen und Entwicklungen von hoher Relevanz konfrontiert, für die es keine hinreichende Vorbereitung gab. Weder konnten Chancen genutzt werden, die etwa die Volksaufstände im Nahen Osten und Nordafrika hätten bieten können, noch Risiken abgewendet werden, die mit der Erosion der multilateralen internationalen Ordnung einhergehen. Mittlerweile haben sich die vielfältigen Krisen zu einer globalen Krisenlandschaft verdichtet. Zwar würde es fehlgehen, mangelnde Warnungen vor diesen Situationen der Wissenschaft anzulasten, gab es doch hinreichend Analysen, die auf die tiefsitzende Unzufriedenheit etwa in der arabischen Welt oder die Kluft zwischen dem Bedarf und dem Angebot an Global Governance hinwiesen. Eine gewisse Enttäuschung wäre aber zumindest auf Seiten der deutschen Politik nachzuvollziehen, hat diese doch in den Aufbau von Vorausschau-Kompetenz in Administration und Wissenschaft investiert – verbunden mit der Hoffnung auf bessere Früherkennung und Vorsorge.

Der Zukunftsforschung stellt sich somit eine Frage: (Wie) Kann sie dazu beitragen, dass die Politik ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in Entscheidungen berücksichtigt? Und damit gezielter entscheiden kann, wo Prioritäten beispielsweise für Vorsorge gesetzt werden sollten? Wenn diese Frage grundsätzlich als relevant angesehen wird, lassen sich zwei Konsequenzen ziehen: Zum einen geht es in methodischer Hinsicht darum, sich mit Varianten der Vorausschau zu befassen, deren Zukunftsaussagen zur Grundlage für begründete Vorsorgeentscheidungen werden können. Und zum anderen geht es in konzeptioneller Hinsicht darum, sich mit den Perspektiven politischer Akteure vertraut zu machen, um besser zu verstehen, wie zukunftsgerichtete Entscheidungen zustande kommen – also einen wissenschaftlichen Perspektivenwechsel auf die politische Ebene vorzunehmen.

2.4. Systematische Vorausschau erhöht die politische Glaubwürdigkeit

In methodischer Hinsicht scheinen für diesen Zweck Varianten der Vorausschau vielversprechend zu sein, die ihre Stärke in der systematischen Nachprüfbarkeit und Auswertung der getätigten Zukunftsaussagen haben. Dazu zählen Forecasting-Ansätze, sei es in Form von Prediction Markets oder Forecast Tournaments mit möglichst vielen Teilnehmenden – beides Varianten, die Einschätzungen zu konkreten Situationen abfragen und die Ergebnisse transparent auswerten. So lässt sich ermitteln, wer konsistent über Zeit hinweg überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt, also öfter richtig liegt mit den Zukunftsaussagen. Bei Forecast Tournaments stellt eine simple Kennzahl, der Brier Score, die individuelle Leistung anschaulich dar. Die Zusammenfassung der erfolgreichsten Individuen in Teams steigert die Vorhersagegenauigkeit weiter. Wie das funktioniert und welche Ergebnisse damit zu erzielen sind, hat Philip Tetlock in wissenschaftlichen Untersuchungen von mehrjährigen Forecast-Wettbewerben überzeugend dargelegt.

Primäres Ziel wäre eine zunehmende Objektivierbarkeit der Güte von Zukunfts-aussagen – also genau das, was auch die Legitimation für den Einsatz von datengestützten Analysesystemen produzieren soll, wie etwa bei der außenpolitischen Krisenfrüherkennung oder im Predictive Policing. Im Gegensatz zu den Algorithmen von Meta-Datenbanken wäre allerdings einfach nachzuvollziehen, auf welcher zukunftsanalytischen Leistung die Handlungsempfehlungen für staatliche Interventionen beruhen. Umgekehrt formuliert: Wenn nicht Maschinen, sondern Menschen zukunftsorientierte Entscheidungen prägen sollen, dann sind glaubwürdige Zukunftsaussagen eine unabdingbare Voraussetzung. Prediction Markets oder Forecast Tournaments sind dafür geeignet, herauszufinden, wer kontinuierlich gute Vorhersagen macht. Ein sekundärer Effekt systematischer Vorausschau würde darin bestehen, die Zweifel politischer Akteure über die Belastbarkeit der ihnen vorliegenden Zukunftsaussagen so weit zu minimieren, dass sie zur vertrauenswürdigen Grundlage auch folgenreicher Entscheidungen werden können.

2.5. Auf die richtigen Fragen kommt es an

Die Zukunftsforschung würde eine Schlüsselstellung in einem Projekt systematischer Vorausschau einnehmen. Sie könnte sich maßgeblich an der Auswahl und Zusammenstellung der relevanten Fragen im Rahmen des Forecasting beteiligen. Zum einen würde dies den Einfluss miteinander konkurrierender politischer Interessen begrenzen – nach dem Motto: wer die Fragen kontrolliert, kontrolliert auch die Antworten, und droht, damit die Zukunftsvorstellungen zu dominieren. Und zum anderen käme die Kompetenz der Zunft, nämlich die professionelle Zukunftsorientierung, voll zum Tragen. Die beeindruckende Vielfalt der Themen, die in der Zukunftsforschung wissenschaftlich behandelt werden, könnte bei der Fragengenerierung breit zur Geltung kommen.

Die Unabhängigkeit der Zukunftsforschung wäre so gleichermaßen Garant für einerseits wissenschaftliche Kompetenz und andererseits politische Relevanz des Vorhabens. Dass es zwischen diesen beiden Faktoren ein Spannungsfeld gibt, wissen alle, die wissenschaftsbasierte Politikberatung betreiben oder untersuchen – was zur zweiten Konsequenz überleitet, die konzeptionelle Fragen berührt: Wie können wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in unsere Empfehlungen für zukunftsorientiertes Handeln der Politik einbeziehen, welche Interessen und Motivationen für politische Entscheidungen relevant sind? Wie also setzt die Politik ihre Prioritäten, wenn es um die Zukunft geht?

2.6. Vorausschau hilft, Herausforderungen zu priorisieren

Politik wird permanent mit unzähligen Herausforderungen konfrontiert, von denen vermutet wird, dass sie in der Zukunft relevant werden könnten und die daher der Vorsorge bedürfen. Welche Herausforderungen in der Konkurrenz um politische Aufmerksamkeit letztlich Berücksichtigung finden, entscheidet sich in einem Prozess, auf den sowohl sachnahe wie auch sachfremde Faktoren einwirken. Zu nennen sind etwa ideologische Überzeugungen von politischen Akteuren, aber auch Erwartungen hinsichtlich der Folgen, die Entscheidungen für die wirtschaftliche Entwicklung, die internationale Reputation, die öffentliche Meinung usw. haben können. In der Alltagspolitik werden Entscheidungen über Vorsorge-Prioritäten und die damit verbundene Allokation von Ressourcen mindestens ebenso durch Ideen, Interessen und Opportunitätskalküle beeinflusst wie durch Vermutungen über künftig relevante Entwicklungen.

Aus Perspektive der Zukunftsforschung gemahnt das zwar häufig an „Fahren auf Sicht“, ist aus politischer Sicht aber nachvollziehbar. Denn gerade Entscheidungen, die langfristige Weichenstellungen für die soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung vornehmen, haben größere Aussicht auf erfolgreiche Umsetzung, wenn sie gesellschaftlich breit unterstützt werden. Wie kann die Politik diese Unterstützung angesichts einer Vielzahl an vermuteten Zukunftsherausforderungen mobilisieren? Mithilfe systematischer Vorausschau. Zukunftsaussagen, die hohen methodischen Standards genügen und einer ständigen Erfolgskontrolle unterliegen, können dazu beitragen, die politische wie auch die gesellschaftliche Debatte über Handlungsprioritäten zu versachlichen. Entsprechende Projekte lassen sich vergleichsweise einfach organisieren. Teilnehmende an Prediction Markets oder Forecast Tournaments könnten aus der Administration gewonnen werden: Allein das Auswärtige Amt beschäftigt etwa 12.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und natürlich müsste der Kreis der Teilnehmenden nicht auf die Administration beschränkt bleiben, sondern könnte und sollte um gesellschaftliche Akteure erweitert werden, etwa aus Unternehmen, NGOs und der Wissenschaft.

Transparent und beteiligungsoffen organisierte Vorausschau erzeugt Vertrauen in die Ergebnisse – eine wichtige Grundlage für geteilte Lagebeurteilungen und gemeinsame Prioritätensetzung. Ein Indikator wie der Brier Score bietet Orientierung, wenn unterschiedliche Annahmen darüber vorliegen, welches hypothetische Ereignis in der Zukunft höhere Handlungsrelevanz in der Gegenwart beanspruchen kann. Gerade kostenintensive und unbequeme Vorsorgemaßnahmen lassen sich gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit besser rechtfertigen, wenn sie auf Zukunftsaussagen beruhen, die vergleichsweise hohe Glaubwürdigkeit besitzen. Für die Politik wäre es attraktiv, sich zusätzlich zu datengestützten Analysesystemen und klassischen Foresight-Prozessen auch dieser Methode zu bedienen. Im Idealfall entstünde eine Art evidenzinformierte Politik zur Zukunftsvorsorge: Die erfolgskontrollierte Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit künftiger Ereignisse und Entwicklungen, die es der Politik ermöglicht, die Prioritätensetzung für Vorsorgeentscheidungen öffentlich und wissenschaftlich nachvollziehbar zu begründen.

3. Replik 1:

Prof. Dr. Dr. Axel Zweck, VDI Technologiezentrum GmbH, Düsseldorf

In seinem Beitrag geht Lars Brozus davon aus, dass eine in der Vergangenheit quantifiziert-erfolgreiche Schwarmintelligenz aus mehreren Personen, die fachlich orientiert, aber keine ZukunftsforscherInnen sein müssen, eine hochwahrscheinliche Aussage über die nächste Krise in ihrem jeweiligen Gebiet treffen kann. Dies soll politischen Akteuren ermöglichen sich frühzeitig darauf vorzubereiten und rechtzeitig Handlungsoptionen zu erarbeiten.

Das lebenspraktische Problem daran ist: PrognostikerInnen, die in der Vergangenheit sehr erfolgreich waren, sind es nicht zwangsläufig auch in der und für die Zukunft. Dementsprechend scheint es gewagt, aus der Güte und Treffsicherheit vergangener Annahmen auf zuverlässige Prognosen für die weitere Zukunft zu schließen. ExpertInnen, die eine zutreffende Prognose formuliert haben, stehen im weiteren Lebensverlauf in einem anderen wissenschaftlichen und persönlichen Umfeld. Dieses Umfeld aber ist für ihre Perspektive auf die Zukunft essenziell. Sie prägt ihre Einschätzung bezüglich der Zukunftsaussichten wesentlich.

Die wissenschaftliche Zukunftsforschung verfolgt daher bewusst nicht den Ansatz sich auf „die Eine“ wahrscheinlichste Zukunft zu setzen. Das Argumentieren über Eintrittswahrscheinlichkeiten ermöglicht keine robusten Zukunftsstrategien. So können hier beispielsweise keine Wildcards eine Berücksichtigung finden, da sie eine nur geringe Eintrittswahrscheinlichkeit haben. Treffen sie dann dennoch ein wäre die Fokussierung der Politik auf die Ergebnisse der wahrscheinlichsten Erwartung gänzlich fehlgeleitet. Darf Politik in dieser Form beraten werden? Hinweise auf mögliche Krisen, wie die der aktuellen Pandemie, die in ähnlicher Form als „Die neue Pest“ 2004 im Buch „Wild Cards: Wenn das Unwahrscheinliche eintritt“ von den Autoren Steinmüller beschrieben wurden, blieben in dieser Betrachtungsweise unbeachtet. Ein weiteres Beispiel hinsichtlich frühzeitiger Hinweise auf die Herausforderungen möglicher Pandemien, stellt die Studie „Pandemische Influenza in Deutschland 2020 - Szenarien und Handlungsoptionen“ aus dem Jahre 2013 dar, an der der Autor dieser Replik mitwirken durfte. Bereits 2013 wurde auf Fragen zur Einschränkung der Mobilität, zur Prioritätenliste für die Impfstoffversorgung, bezüglich Entscheidungs- und Zuständigkeitsstrukturen in Deutschland oder auch zur Stimmungslage in der Bevölkerung als Schlüsselfaktoren für den Umgang mit der Pandemie hingewiesen. In der Praxis mangelt es nur in den seltensten Fällen an Hinweisen auf mögliche zukünftige Entwicklungen wie z. B. Krisen. Die Herausforderung liegt vielmehr in der Tatsache, dass eine ressortspezifische wie auch ressortübergreifende Auseinandersetzung mit möglichen Zukünften meist nur punktuell, d h. viel zu wenig systematisch und kontinuierlich stattfindet. Dies wird als Problem zwar erkannt, dem wird aber noch unzureichend entgegengesteuert. Eine Ursache hierfür liegt auch am thematisch und zeitlich an Wahlperioden orientierten Planen und Denken. Eine weitere demokratiebezogen wichtige Frage ist, ob Zukunftsforschung als und unabhängige und neutrale Wissenschaft eine wichtige Beratungsfunktion für die Politik erfüllen will oder ob sie politische Schwerpunktsetzungen über vermeintlich gesicherte Ergebnisse von ExpertInnenumfragen beeinflusst oder gar steuert. Abgesehen davon haben groß angelegte ExpertInnenbefragungen durchaus ihre Tücken, wie die frühen deutschen Delphi-Umfragen (z. B.: Delphi ´98 Umfrage) als Basis für Foresight gezeigt haben.

Die aktuelle Pandemiekrise könnte in Politik und politischer Administration die Erkenntnis geweckt oder verstärkt haben, dass eine frühzeitige und vorausschauende Auseinandersetzung mit möglichen Zukünften keineswegs von nur akademischem Interesse ist.

4. Replik 2:

Prof. Dr. habil Heiko von der Gracht, Steinbeis-Hochschule

Prof. Dr. Stefanie Kisgen, Steinbeis School of International Business and Entrepreneurship (SIBE)

4.1. Foresight ist auch Marketing

Drehen wir die Frage um, die Dr. Lars Brozus in seinem Essay zur Profession der Zukunftsforschung im Oktober 2020 echauffiert, und fragen unsere Adressaten: Warum habt ihr denn nicht mitbekommen, dass wir Zukunftsforscherinnen und -forscher das alles längst haben kommen sehen? Brozus schält in wenigen Sätzen das Dilemma unserer Zukunftsdisziplin heraus, was uns augenblicklich an eine Analogie zur philosophischen Frage vom „fallenden Baum“ erinnerte: Rufer in der Wüste. Wenn der Rufer ruft und keiner hört ihn, hat er dann wirklich gerufen? Oder wird er nach seinen Warnrufen dann auch noch bestraft, indem ihm von funktionell Tauben unterstellt wird, er habe nicht oder nicht laut genug gerufen?

Brozus gibt eine Teilantwort, indem er auf den idiosynkratischen politischen und institutionellen Prozess der Entscheidungsfindung verweist, der nicht besonders hellhörig für Rufe aus der Wüste ist. Allein dieser Hinweis ist gut für zwei Dutzend Dissertationen zum Thema. Ein anderer Hinweis ist unserer Ansicht nach mindestens ebenso illustrativ. Wie Professor Rafael Ramirez von der Oxford University sagt: Other people’s scenarios are boring. Es ist fast peinlich, in unserem gehypten Zeitalter davon zu sprechen. Doch es könnte schlicht am Marketing für unsere Szenario- und Zukunftsanalysen liegen: Wir wissen alles, wir prognostizieren alles mit erstaunlicher Eindrücklichkeit, doch unseren Rezipienten geht das links rein und rechts raus, weil wir langweilen.

Wer zumindest sporadisch mit den Ohren seiner oder ihrer Adressaten hört, muss, Hand aufs Herz, häufig zugeben – wie eine Kollegin das formuliert: „Ich würde mich auch langweilen, wenn ich mir selber zuhören müsste.“ So geht’s natürlich auch: zu abstrakt, zu verschachtelt, zu wenig kolloquial, monoton bis knochentrocken im Stil, ohne zielgruppen-kongruente Beispiele, ohne andragogische Dramaturgie und didaktische Hyperbeln, Vergleiche und Sprachfiguren und dann auch noch in der falschen Sprache: Experten-Speak statt Zielgruppen-Jargon.

Es könnte auch sein, dass unsere Wahrnehmung uns einen Streich spielt: Wenn wir „Government Foresight“ googlen, erhalten wir über 30.000 Hits; größtenteils qualitativ hochwertig von Regierungsseiten und wissenschaftlichen Fachjournals, die bestätigen: Unsere Profession zählt was! Man hört auf uns. Also worüber beklagen wir uns?

Möglicherweise ist der Grund für unsere Klagen ein Imparitätseffekt: Wir können 99 Mal richtig liegen, gerade auch im hoch sensiblen und sicherheitsrelevanten geopolitischen Umfeld – und niemand nickt uns auch nur anerkennend zu. Aber lass uns auch nur ein einziges von 100 Malen auf eine mögliche Entwicklung nicht mit dem nötigen Nachdruck und der angezeigten Laienverständlichkeit (s.o.) hinweisen – und schon fällt die Frage: Warum habt ihr nicht …?

Brozus kennt unter Garantie die Szenariotechnik und ihre unterschiedlichen Ansätze. Doch auf seinen sechs Seiten Philippika erscheint das für viele ExpertInnen mächtigste narrative Instrument der Zukunftsforschung nirgends. Warum? Möglicherweise weil Brozus, wie wir alle zuweilen, die Glaubwürdigkeit der Vorausschau bei unseren Adressaten erhöhen möchte, indem er den Fokus auf quantitative Methoden legt. Doch beißt sich dabei die Katze der Vorausschau nicht in den Schwanz? Quantitativ kann auch fehlen – und schwupps ist die Glaubwürdigkeit perdu. Nichts gegen quantitative Methoden. Doch wie wäre es, unsere Auftraggeber mittelfristig stärker auch an qualitative Instrumente zu gewöhnen? Unser Baukasten umfasst über 40 Methoden, darunter so wirkmächtige wie Business Wargaming, Zukunftswerkstätten oder die eben erwähnten narrativen Szenarien.

Und schließlich: Gewisse Zielgruppen erwarten von uns immer noch die Vorhersage der einzig wahren Zukunft in der Art: „Am 31. Mai 2022 wütet in Indien die nächste Jahrhundert-Flutwelle!“ Ist es diese märchenhafte Erwartungshaltung, welche vorwurfsvolle Fragen wie die behandelte provoziert, wäre die Lösung allerdings trivial: Mehr Aufklärung. Mehr Bildung. Wir sollten allen Adressaten immer und immer wieder vermitteln: Foresight ist nicht Vorhersage. Die Profession der Zukunftsforschung ist seriös. Wir tippen keine Lottozahlen. Wir eröffnen stattdessen den Raum zukünftiger Möglichkeiten. Es gibt mithin keine Zukunft. Es gibt nur Zukünfte. Und wir kennen sie alle.

5. Replik 3:

Kai Gondlach, Zukunftsforscher, Leipzig

5.1. Einführung

Der Fachvortrag von Dr. Lars Brozus am 5. Oktober 2020 beim Netzwerk Zukunftsforschung sprach mir aus der Seele. Er skizzierte darin das Spannungsfeld zwischen hohen Erwartungen gegenüber Prognosen aus der (Zukunfts-)Forschung sowie der zurecht attestierten Distanz politischer Institutionen zur akademischen Zukunftsforschung. Die deutschsprachige Zukunftsforschung ist relativ jung, der universitäre Arm umso jünger und die Gemeinschaft ist fragmentiert, was nicht zuletzt ihrem interdisziplinären Charakter zuzuschreiben ist.

Entscheidungsträger*innen in der Politik und Politikberatung haben in der zurückliegenden Dekade viele erhebliche Umwälzungen nicht kommen sehen. Diese Ausführungen verleiten mich zu der Annahme, dass Politik und Verwaltung die Komplexität global und digital vernetzter Gesellschaften nicht adäquat mit ihren Strukturen und Arbeitsweisen abbilden können. Darüber hinaus unterschätzen sie ähnlich wie wirtschaftliche Auftraggeber den Aufwand, den die fundierte Erstellung von Zukunftsszenarien und -prognosen mit sich bringt.

5.2. Kritische Würdigung

Ich stimme Dr. Brozus im Befund zu, dass politische und administrative Institutionen stärker vom holistischen Blick der Zukunftsforschung profitieren könnten und sollten. Denn viele der skizzierten „Überraschungen“ kann ich nicht bestätigen.

Der „Arabische Frühling“ wurde nicht nur, aber maßgeblich durch die Verbreitung digitaler Plattformen und vernetzter Endgeräte getragen. Mit dem Markteintritt der ersten Smartphones wurden derartige Szenarien gesellschaftlicher Sprengkraft durchaus diskutiert. Auswirkungen des Neuen Kalten Kriegs und die Annexion der Krim durch Russland waren vielleicht nicht exakt vorhersehbar, und doch implizit Teil politikwissenschaftlicher Projektionen. Die Flucht- und Migrationskrise Mitte der 2010er Jahre war lange vorher Teil des Diskurses, der auch im Masterstudiengang Zukunftsforschung im Modul „Global Governance“ analysiert wurde. Der „Brexit“ und die Wahl Donald Trumps wurden wieder zum Teil durch die Unterschätzung der Verbreitung von gezielten Werbemaßnahmen und Fake News in „Sozialen Netzwerken“ ermöglicht.

Mein Eindruck ist, dass der Befund eines digitalen #neuland|s auch in den 2020er Jahren zutrifft, was nicht zuletzt in Pandemiezeiten mit Blick auf die Corona-Warn-App und die mangelhafte Vernetzung der Gesundheitsämter Menschenleben kostet. Daher plädiere ich für die institutionelle Verankerung der Zukunftsforschung in Politik und Verwaltung und möchte einen Vorschlag zur Diskussion stellen.

5.2.1. Politisch-administrative Verankerung der Zukunftsforschung

Aussagen über die Zukunft, oder besser: Zukünfte, sind immer nur so gut, wie stabil deren Entstehungs- und Datenbasis ist. Im Bereich der Auftragsforschung hängt diese wiederum unmittelbar mit der finanziellen und personellen Ausstattung zusammen, welche in der Zukunftsforschung weit vom Optimum entfernt ist. Ansätze wie Pop-Zukunftsforschung oder der Superforecaster-Ansatz von Phil Tetlock kratzen inhaltlich nur an der Oberfläche. Sie verfolgen darüber hinaus nicht das Ziel, unerwartete Ereignisse vorher zu antizipieren, sondern Ausprägungen bekannter Entwicklungen vorab zu skizzieren und dann auf die richtige zu wetten.

Für politische und administrative Institutionen wäre eher der Weg der kritischen Zukunftsforschung ratsam, da dieser als einzige Denkschule der neueren Zukunftsforschung dazu geeignet wäre, blinde Flecken unabhängig und eben nicht konkret – auf spezifische Problemfelder beschränkt – vorherzudenken. Dr. Brozus sagte: „Die Zukunftsforschung würde eine Schlüsselstellung in einem Projekt systematischer Vorausschau einnehmen“ – gern! Ein „Bundesamt für Zukunftsforschung“ in organisatorischer Anlehnung an das Statistische Bundesamt oder die Schufa könnte den Rahmen für einen Zukunfts-Thinktank geben. Die Architekt*innen der Aufbauorganisation dürften aber nicht den Fehler begehen, die bundesbehördlichen starren Hierarchien zu replizieren. Vielmehr sollte in dieser Denkfabrik ein Klima geschaffen werden, welches es gleichermaßen zu einem begehrenswerten Projekt- oder Arbeitgeber für die etablierten wie aufstrebenden Zukunftsforschenden machen würde. Darüber hinaus ist es wichtig, eine Institution mit der inhärenten Logik zu versehen, um über die eigenen Wirkgrenzen im System „Politik und Administration“ hinausdenken zu können.

Zu den Aufgaben der neuen Stelle würde in einem ersten Schritt die Vernetzung der deutschsprachigen Institutionen gehören, welche nach wissenschaftlichen Kriterien kritische Zukunftsforschung betreiben (können). Anschließend würde in den wichtigsten Politikfeldern (Grundversorgung und Infrastruktur, Gesundheit, Bildung, Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Digitalisierung etc.) einerseits ein ständiger Beirat von geeigneten Expert*innen sowie eine auf Dauer angelegte Forschungs-mechanik erarbeitet werden, um andererseits unter Berücksichtigung laufender Experten- und Massenumfragen belastbare Prognosen zu den Kernthemen der Zeit zu erstellen. Erst im Betrieb dieser neu geschaffenen Institution wird sich zeigen, dass strukturierte Vorgehensweise, Nutzung aller verfügbaren Datenquellen und (künstlich) intelligente Vernetzung dieser Informationen die Treffsicherheit von Foresight-Einschätzungen erheblich steigen wird. Diese wird dann kontinuierlich ex-post bewertet.

Schließlich sollte an dieses Bundesamt eine Beratungsstelle für Bundesbehörden und -ämter eingerichtet werden, um die Bildung für nachhaltige Entwicklung und Zukünftedenken („Futures Literacy“) in allen Bildungssektoren voranzutreiben. Offensichtlich mangelt es bis in die höchsten Ämter der Bundesrepublik an der Fähigkeit und den Werkzeugen, fundiert über offene Zukunftsentwicklungen zu sprechen. Hierzu sollte insbesondere die Gemeinschaft der Zukunftsforschenden, auch in Form des Netzwerks Zukunftsforschung, einen Beitrag leisten.

6. Replik 4:

Dr. Christian Neuhaus, FUTURESAFFAIRS – Büro für aufgeklärte Zukunftsforschung

6.1. Replik zum Beitrag „Globale Krisenlandschaften, die Zukunftsforschung und Entscheidungshilfen für die Politik“ von Lars Brozus, SWP, vom 05.10.2020

Der Beitrag von Lars Brozus bereichert die konzeptionelle Diskussion in der Zukunftsforschung, insbesondere im Hinblick auf das Einsatzfeld Politik, in mehrfacher Hinsicht: Erstens liefert er mit der einleitenden Aufzählung krisenhafter Geschehnisse allein der letzten 10 Jahre, welche die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik offenbar weitgehend unvorbereitet trafen, ein eindrucksvolles Panorama der Herausforderungen, mit denen eine Politik-beratende Zukunftsforschung umzugehen hat. Zweitens werden mögliche Anwendungen und Nutzendimensionen von wissenschaftlich abgestützten Zukunftsaussagen benannt: Die Prioritätensetzung für politische Vorsorgeentscheidungen; die Gewinnung einer breiten gesellschaftlichen Unterstützung für langfristig Weichen stellende Entscheidungen; die Eignung, zu interpersonell und interorganisational geteilten Lagebeurteilungen und Prioritätensetzungen beizutragen. Auch damit wird greifbar, welche Aufgaben auf eine Zukunftsforschung im Einsatzfeld Politik warten. Drittens bergen auch die methodologischen Vorschläge des Autors inspirierende Anregungen für die Zukunftsforschung, die es allerdings von den eher problematischen Aspekten zu trennen gilt, die dabei ebenfalls zu finden sind.

6.2. Ansatz von Tetlock

Im methodologischen Teil seines Beitrages übernimmt Brozus letztlich Ansatz und Agenda von Philip Tetlock. Tetlock, gelernter Psychologe, untersucht seit Langem Möglichkeiten der empirischen Beurteilung von Zukunftsaussagen. Dazu hat er eine auf dem Brier Score basierende Mess-Methodik entwickelt, mit der die „Treffsicherheit“ (accuracy) von Prognosen erfasst werden soll, die mit einem „Eintrittswahrscheinlichkeit“ genannten Wert p versehen wurden. Das Konzept Treffsicherheit bildet den Dreh- und Angelpunkt der Position und Arbeiten von Tetlock. Der Brier Score, ursprünglich zur expost-Bewertung von Wettervorhersagen vorgeschlagen, ist unter Mitwirkung von Tetlock in mehreren, teils großen sogenannten Prognose-Wettbewerben (Forecast Tournaments) mit Themen aus der (Außen- und Sicherheits-) Politik zum Einsatz gekommen.

6.3. Hinweise für Zukunftsforschung

Die Arbeiten, Folgerungen und Vorschläge von Tetlock, dargelegt in Tetlock (2017) und Tetlock/Gardner (2019), beinhalten einige Anknüpfungspunkte für die wissenschaftliche Zukunftsforschung, die besondere Beachtung verdienen, nicht nur im Einsatzfeld Politik. Andere Aspekte des Tetlock´schen Programms erscheinen dagegen fragwürdig oder bedürfen noch einer Präzisierung, Anpassung oder Weiterentwicklung. Diese Diskussion, die sich nur auf solche Zukunftsforschung beziehen kann, die sich mit der Erzeugung deskriptiver Zukunftsaussagen im Modus des „So-wird/kann-es-sein“ befasst, kann hier nur ansatzweise erfolgen.

So spricht beispielsweise nichts gegen die von Tetlock erhobene Forderung, dass dargestellte zukünftige Sachverhalte klar beschrieben werden müssen und stets erkennbar sein muss, auf welchen Zeitraum, -punkt oder -horizont die Aussagen bezogen sind (ähnlich Peperhove/Bernasconi 2015 oder Neuhaus 2015). Auch die Möglichkeit, ex post festzustellen, ob der betreffende Sachverhalt wie dargestellt eingetreten ist, sollte bei der Formulierung von Zukunftsaussagen gewährleistet werden.

6.4. Erfolgsfaktoren der Zukunfts-Beschreibung

Instruktiv sind auch die umfassenden Befunde Tetlocks zu den persönlichen, teambezogenen und institutionellen Erfolgsfaktoren, die zu einer Erhöhung der Treffsicherheit von deskriptiven Zukunftsaussagen beitragen (Vgl. Tetlock 2017; Tetlock/Gardner 2019). Auch wem es nicht um die Abfassung exakter Prognosen mit genauen Eintritts-Wahrscheinlichkeiten geht, findet hier hilfreiche Hinweise für eine wissenschaftliche Zukunftsforschung, die mit möglichen und wahrscheinlichen Zukünften befasst ist. Stichworte sind hier: die Bereitschaft zu gründlicher Recherche; eine Offenheit des Denkens (open-mindedness); eine nüchterne Haltung gegenüber den eigenen Theorien und Weltsichten; eine Dissonanz-Toleranz gegenüber Informationen, die nicht zueinander zu passen scheinen, die pragmatische Nutzung von Theoriebausteinen unterschiedlicher Provenienz; die Fähigkeit, verschiedene unvermeidbare Verzerrungen (biases) beim Problemlösen gegeneinander zu balancieren und so teilweise auszugleichen; das Verständnis der vorgenannten Dispositionen als trainierbare, steigerungsfähige und routinisierbare Kompetenzen; Fähigkeiten und Teamkulturen, die eine wertschätzende, aber kritische Zusammenarbeit fördern; Team-Diversität in mehrfacher Hinsicht; Rechenschaftspflicht (accountability) bezüglich der formulierten Aussagen.

6.5. Prognose-Wettbewerbe

Der Vorschlag, Prognose-Wettbewerbe in der Politik-beratenden Zukunftsforschung auszurichten, vielleicht sogar zu institutionalisieren, erfordert dagegen eine differenzierende Würdigung. Zweifellos können solche Wettbewerbe zu Ausbildungs- und Trainings-Zwecken veranstaltet werden. Auch eine wiederholte, verstetigte Ausrichtung von Prognose-Wettbewerben, mit (fach-)öffentlicher Anteilnahme, anschließender Auszeichnung oder Preisverleihung ist eine interessante Option für die sich weiter disziplinär etablierende Zukunftsforschung, eine starke und beständige Trägerschaft vorausgesetzt.

Voraussetzungsvoller sind dagegen die Vorschläge, Prognose-Wettbewerbe direkt in die Praxis der zukunftsbezogenen Beratung realer Politik einzubauen. Dazu zählt erstens die Idee, die in vorangegangenen Prognose-Wettbewerben errungenen Erfolge (track records) zum dominanten Kriterium für die Glaubwürdigkeit neuer Zukunftsaussagen derselben Urheber zu machen. Dazu wäre zu prüfen, ob die Bedingungen und Fragestellungen in den Prognose-Wettbewerben analog sind zu den aktuellen Zukunftsfragen, auf welche die Qualifikations-Vermutung übertragen werden soll. Zusätzlich wäre, noch abgesehen von der schwierigen Frage, wie die TeilnehmerInnen dafür gewonnen werden könnten, der erhoffte Nutzen-Zuwachs auf der Verwenderseite näher zu bestimmen und gegen den erheblichen, auf Dauer gestellten Ressourcenbedarf einer solchen Institutionalisierung abzuwägen. Das gilt noch mehr für den Vorschlag Tetlocks, Prognose-Wettbewerbe zu Quellen (pipelines) für Zukunftsaussagen für die direkte politische Verwendung zu machen. Hier stellt sich besonders die Frage, ob die verfahrensbedingt besonders zugeschnittenen Zukunftsaussagen zu dem Orientierungsbedarf auf der Verwenderseite passen.

6.6. Bedingt verwendbare Ergebnisse

Denn der Nutzen der vorgeschlagenen Verfahren und der durch sie hervorgebrachen Ergebnisse ist nicht so fraglos und flächendeckend gegeben, wie es Tetlock und vielleicht auch Brozus erscheinen lassen. Zum einen sind einige Begrenzungen des Einsatz- bzw. Aussagenbereiches zu beachten, welche die Tetlock´schen Idee der Prognose-Wettbewerbe mit sich bringt. Zum anderen würde auch die Verwenderseite vor erhebliche Anforderungen gestellt. So drängt das Verfahren zu relativ einfachen, inkomplexen Zukunftsbeschreibungen. Tetlock (mit Gardner 2019: 249) konzediert selbst, dass sein Ansatz nicht für die großen Fragen geeignet sei. Große Fragen lassen sich schwer in die erforderlich binäre Struktur von Treffer/Nichttreffer bringen. Zweitens findet der Ansatz der Wahrscheinlichkeits-Schätzungen bei sehr kleinen p eine Grenze, also bei den Wild Cards oder Schwarzen Schwänen im Sinne Nassim Talebs. Und drittens ist der relativ kurze Zeithorizont der hervorgebrachten Zukunftsaussagen zu beachten. Nur für relativ nahe Zukünfte konnten überzufällige Prognoseerfolge überhaupt festgestellt werden. In dem jüngsten Prognose-Wettbewerb, von dem Tetlock berichtet, bezog sich der weitaus größte Teil der 500 Prognose-Fragen auf Zeiträume von weniger als einem Jahr (Tetlock/Gardner 2019: 17). Es ist zu vermuten, dass der Zuständigkeitsbereich der vorgeschlagenen Verfahren und Metriken bei Zukunftsaussagen mit einem Horizont bis zu einem, vielleicht 2 Jahren liegt. Das ist im Rahmen einer immer auch kurzfristig orientierten Außen- und Sicherheitspolitik nicht wenig, dürfte aber in vielen strategischen Fragen zu kurz sein. Zum anderen verlangt der Vorschlag, Zukunftsaussagen mit einem numerischen Wert p zu versehen, der das Vertrauen der UrheberInnen in die eigene Zukunftsaussage wiedergibt und der missverständnisträchtig „Wahrscheinlichkeit“ genannt wird, auch der Verwenderseite Einiges ab. Dort müssen vor allem Logiken für Schlussfolgerungen entwickelt werden, die den unterschiedlichen p Rechnung tragen und nicht in eine einfache tritt-ein/tritt-nicht-ein-Unterscheidung zurückfallen. Andererseits ist aber auch der Versuchung zu widerstehen, geringe numerische Unterschiede zur alleinigen Entscheidungsgrundlage zu machen. Dies gilt auch für den an sich plausiblen Vorschlag Tetlocks wie auch Brozus´, Unterschiede in den p zur Priorisierung von Vorsorge-Entscheidungen heranzuziehen, also für Fragen des Typs: „Sollen wir für X vorsorgen, das mit einem p von 0,10 versehen ist, oder besser für Y mit einem p von 0,15?“ Oder: „Ab welchem Schwellenwert von p sorgen wir noch bzw. sorgen wir nicht mehr vor?“. Allgemein gesagt, müsste die Verwenderseite, die sich nicht mehr im abgeschirmten Areal der Analyse, sondern im offenen, von (doppelter) Kontingenz durchdrungenen Areal des Handelns bewegt, darauf achten, sich von der an sich informativen Numerik der p nicht zur Illusion der exakten Berechenbarkeit des Handlungsfeldes verleiten zu lassen.

6.7. Vokabular der Vorhersage

Als kritikwürdig erscheinen mir das Vokabular und teilweise auch die deklarierten paradigmatischen Grundlagen bei Tetlock und damit teilweise auch bei Brozus. Häufig ist bei Tetlock (2017) und dauernd bei Tetlock und Gardner (2019) von prediction und forecasting die Rede, und während der Buchtitel im ersten Fall noch von „Expert Political Judgement“ spricht, handelt der Buchtitel im zweiten Fall von „Superforecasting“ und der „Art & Science of Prediction“. Ebenso häufig ist von probabilities die Rede, so selbstverständlich, als ginge es um die Wahrscheinlichkeitsverteilungen eines Würfels oder eines Roulettespiels. Damit scheint Tetlock auf den ersten Blick ein transparentes Zukunftskonzept und ein zutiefst prädiktives Verständnis von Zukunftsforschung zu pflegen. Eine solche Sicht nimmt an, dass Zukunft prinzipiell vorherwissbar ist, geeignete Methoden vorausgesetzt, und dass die Aufgabe von Zukunftsforschung darin besteht, solches Vorherwissen zuverlässig zu liefern oder, kurz gesagt, die Zukunft vorherzusagen. Ein solches Vorhersage-zentriertes Selbstverständnis war zwar kennzeichnend für die klassische Zukunftsforschung der 1950er, 60er und frühen 70er Jahre, geriet aber aus Mangel an Erfolgen seit Mitte der 1970er Jahren zunehmend in die Defensive (instruktiv dazu: Seefried 2017). Das Versprechen sicheren Vorherwissens wird heute, trotz unverminderter bzw. laufend nachwachsender Nachfrage, in der seriösen Zukunftsforschung wegen Unerfüllbarkeit nur noch selten offen vertreten.

Jedoch wird die zugkräftige Wortwahl Tetlocks sogar seinen eigenen konkreten Vorschlägen und differenzierten Darlegungen nur teilweise gerecht. Zusätzlich erschwert sie eher das Verständnis seiner Verfahrensvorschläge wie auch die sachgerechte Nutzung der erzeugten Ergebnisse. Denn tatsächlich liegen Tetlocks konkrete Vorschläge viel näher an einem aufgeklärten Verständnis von Zukunftsforschung, als es die Rede von superforecasting und prediction wie auch andere Einlassungen erwarten lassen.

6.8. Fazit

In jedem Falle lohnt es, sich mit den Vorschlägen Tetlocks und damit auch Brozus´ genauer zu befassen und das Aussichtsreiche von dem auf Abwege Führenden zu trennen. Ohne Zweifel finden sich in den Arbeiten Tetlocks zahlreiche Anregungen für eine wissenschaftliche, aufgeklärte Zukunftsforschung – weitaus mehr, als die Rede vom Superforecasting zunächst erwarten lässt. Auf diesen Werkkomplex hingewiesen zu haben, bleibt, ebenso wie die instruktiven Einblicke in das zukunftsforscherische Einsatzfeld der Außen- und Sicherheitspolitik, das Verdienst des Beitrages von Lars Brozus.

6.9. Quellen

Gerhold, Lars; Holtmannspötter, Dirk; Neuhaus, Christian; Schüll, Elmar; Schulz-Montag, Beate; Steinmüller, Karlheinz; Zweck, Axel; (Hrsg.), Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung, Wiesbaden 2015.

Neuhaus, Christian, Zukunft im Management. Optionen für das Management von Ungewissheit in strategischen Prozessen, Heidelberg 2006.

Neuhaus, Christian, Prinzip Zukunftsbild, in: Gerhold u. a. (2015), S. 21-30.

Peperhove, Roman; Bernasconi, Tobias, Operative Qualität, in: Gerhold u.a. (2015), S. 121-131.

Seefried, Elke, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung, Berlin/Bonn 2017.

Tetlock, Philip; Gardner, Dan, Superforecasting. The art and science of prediction, (Orig. 2015), London 2019.

Tetlock, Philip: Expert political judgement: How good is it? How can we know?, 2. Aufl., Princeton 2017.

7. Resümee

Dr. Lars Brozus, SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin

7.1. Replik auf die Kommentare zu „Globale Krisenlandschaften, die Zukunftsforschung und Entscheidungshilfen für die Politik“

Dass sich an den Beitrag eine Debatte anschließt, die viele methodische, analytische und normative Fragen aufwirft, spricht für die Neugier und Diskussionsbereitschaft im Netzwerk. Zwar würde bereits die differenziert-kritische Würdigung des Forecast-Ansatzes des Teams um Philip Tetlock, die Christian Neuhaus beisteuert, den ursprünglichen Impuls rechtfertigen. Denn die ernsthafte Beschäftigung mit diesem Forschungsprogramm scheint mir schon allein deshalb geboten, um der politischen Vorausschaupraxis, die zusehends Ansätze indikatorengestützter Zukunftsmodellierung - mit automatisch anschließender Intervention [1] - präferiert, eine Alternative aufzuzeigen, die auf kognitiven Potentialen und multiperspektivischer Orientierung gründet. Aber dass sich darüber hinaus auch Kai Gondlach, Heiko von der Gracht/Stefanie Kisgen und Axel Zweck die Mühe gemacht haben, auf die Thesen des Beitrags einzugehen, bereichert die Konversation um zusätzlich relevante Gesichtspunkte.

Ich bin sehr dankbar für die vielen Anregungen, kann in der Replik ihrer Vielfalt indes kaum gerecht werden, ohne den Rahmen zu sprengen. Selektiv vorzugehen erlaubt mir zudem, einige der härteren Nüsse in den Kommentaren hoffentlich halbwegs elegant zu umschiffen. Damit verbindet sich selbstverständlich die Einladung zur Fortsetzung der Diskussion. Die Replik erfolgt in einem Dreischritt, der Befund, Problemdiskussion und Lösungsvorschläge adressiert, die ich den Kommentaren entnommen habe.

7.2. Der Befund: Vermeintliche Überraschungen

Ausgangspunkt des Beitrags war die Vielzahl gravierenden Ereignisse auf internationaler Ebene, die politisch Verantwortliche in Deutschland und Europa in den letzten zehn Jahren unvorbereitet trafen und die (außen-) politischen Apparate in dauerhaften Krisenmodus versetzten. Sinnfällig dafür steht die einschlägige Äußerung des früheren Bundesaußenministers Steinmeier, wonach „die Welt aus den Fugen“ sei. Neues Interesse für (strategische) Vorausschau war die Folge. [2] Gleichzeitig ertönte in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hier und da die vorwurfsvolle Frage, weshalb die Fachleute für Zukunft nicht rechtzeitig gewarnt hätten.

Diesen Vorwurf muss jemand wie ich, der in der wissenschaftsbasierten Politikberatung mit dem Spezialgebiet Vorausschau tätig ist, sehr ernst nehmen. Daher bin ich ausgesprochen erleichtert, dass sich die Kommentare in diesem Punkt einig sind: Die vermeintlichen Überraschungen waren gar keine, das Problem somit nicht die ausgebliebene Warnung, sondern die „funktionelle Taubheit“ (in Anlehnung an Gracht/Kisgen) der „Verwenderseite“ (Neuhaus) in der Politik. Weder der „Arabische Frühling“ (Gondlach) noch die „Pandemie“ (Zweck) hätten Verantwortliche unvorbereitet treffen müssen, denn in einer Vielzahl von Berichten, Studien, Szenarioübungen usw. sei auf eben diese denkbaren Zukunftsereignisse hingewiesen worden.

7.3. Die Problemdiskussion: Wo hakt es?

So ermutigend es auch ist, dass wir uns einig darin sind, die Frage „Warum habt ihr uns nicht gewarnt?“ mit der Gegenfrage „Warum habt ihr nicht auf uns gehört?“ kontern zu können: in meiner politikberatenden Praxis wird dies nicht immer als weiterführender Beitrag zur Problemdiskussion geschätzt. Hier wird vielmehr auf die begrenzten Aufmerksamkeits- und Zeitressourcen verwiesen, die insbesondere auf der Entscheidungsebene den politischen Alltag prägen. Daher könne im konstanten Strom der Berichte, Empfehlungen und Vorlagen kaum auf nuancierte Zukunftsdeutungen geachtet werden. Und eine angemessene Vorbereitung auf die Unzahl der Herausforderungen sei ohnehin nicht zu leisten.

Zwar gibt es in der Administration ein grundsätzliches Verständnis für die Offenheit von Zukünften, den Nutzen einer sorgfältig erarbeiteten Vielfalt von plausiblen Szenarios und die Problematik deterministischer Probabilitätsaussagen. Das bedeutet aber nicht, dass mit wachsendem Interesse an und steigenden Investitionen in (strategische) Vorausschau nicht doch die implizite Erwartung einhergeht, weniger häufig in Situationen zu geraten, in denen „auf Sicht“ gefahren bzw. entschieden werden muss. Und Hand aufs Herz: Würden wir als politisch Verantwortliche nicht auch größere Entscheidungssicherheit bei aller Zukunftsoffenheit vorziehen?

7.4. Die Lösungsvorschläge: Was tun?

Auch das Spektrum an Lösungsvorschlägen in den Kommentaren ist beeindruckend breit. Es reicht von relativ einfach umzusetzenden Ideen wie der, sich genauer mit den wissenschaftlichen Arbeiten zu Forecasting zu befassen (Neuhaus) über die deutlich größere Herausforderung, unterhaltsamer zu werden und mehr Marketing zu betreiben, ohne Seriositätseinbußen zu riskieren (Gracht/Kisgen) bis zur Forderung nach institutioneller Verankerung der Zukunftsforschung in Politik und Verwaltung (Gondlach); ein Projekt, das wohl mehrere Legislaturperioden beanspruchen dürfte und damit auf die herrschaftspolitische Grundsatzfrage nach der langfristigen Planungsfähigkeit in einer Demokratie (Zweck) trifft.

Ich möchte einen weiteren Vorschlag hinzufügen, der eine mit Leopold Schmertzing entwickelte Idee aufgreift. [3] Wir skizzieren ein Modell systematischer Vorausschau, dass künftiges Geschehen grob in drei Kategorien unterteilt: 1) Von Ereignissen wie Wahlen oder Referenden ist bekannt, wo und wann sie stattfinden und welche Ergebnisausprägungen denkbar sind. Konkrete Ereignisprognosen, wie Forecasts, können die gezielte Vorbereitung erleichtern. 2) Erdbeben, Pandemien oder politische Umstürze finden regelmäßig statt, allerdings variieren Ort, Zeit, Verlauf und Folgen. Hier helfen die vielseitigen Foresight-Methoden, denkbare Entwicklungen zu plausibilisieren. 3) Mithilfe von Red Teaming-Ansätzen kann das wahrhaft Ungewisse durch- oder zumindest angedacht werden, beispielsweise Wildcards.

Um abschließend auf Tetlock zurück zu kommen: nicht perfekte Vorhersagen sollten der Maßstab für die Zukunftsforschung sein, sondern bessere Vorausschau. Ein kalibrierter Methodenmix kann dazu beitragen. [4]

7.5. Literaturempfehlungen von Dr. Brozus zum Themenfeld

Lars Brozus 2020: Die Krisen nach Corona: Systematische Vorausschau als Grundlage evidenzbasierter Vorsorgepolitik, SWP-Aktuell 2020/A 42, Juni 2020

Lars Brozus 2018: Fahren auf Sicht: Effektive Früherkennung in der politischen Praxis, SWP-Studie 2018/S 24, November 2018, 31 Seiten

Christoph Meyer 2020: Warning About Conflicts and Pandemics: How to Get Heard by Decision-Makers, PeaceLab Blog, 24 Juni 2020

Nate Silver 2013: The Signal and the Noise: The Art and Science of Prediction, London: Penguin

Philip E. Tetlock/Barbara A. Mellers/Peter Scoblic 2017: Bringing probability judgments into policy debates via forecasting tournaments, Science 355, 481–483.

Philip E. Tetlock/Barbara A. Mellers/Nick Rohrbaugh/Eva Chen 2014: Forecasting Tournaments: Tools for Increasing Transparency and Improving the Quality of Debate, Current Directions in Psychological Science, Vol. 23(4), 290–295



[1] In der Diskussion zum Vortrag, der dem Beitrag zugrunde liegt, beim Jahrestreffen des Netzwerk Zukunftsforschung 2020 verwies Lars Gerhold in diesem Zusammenhang auf Predictive Policing; hinzugefügt werden könnte auch Forecast-based Financing im Bereich der humanitären Nothilfe.

[2] Der Begriff Vorausschau wird hier als Sammelbezeichnung für die verschiedenen Ansätze und Methoden genutzt, die Zukunftsaussagen ermöglichen, grob untergliedert in Foresight- und Forecast-Techniken sowie daten- bzw. indikatorengestützte Modellierungen und Simulationen.

[3] Lars Brozus/Leopold Schmertzing 2020: Was schwarze Schwäne und rote Teams mit strategischer Planung zu tun haben, Handelsblatt, 11.12.2020, S. 64, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/medienbeitraege/Bzs__Schmertzing_Handelsblatt_2020-12-11.pdf.

[4] J. Peter Scoblic/Philip E. Tetlock 2020: A Better Crystal Ball. The Right Way to Think About the Future, Foreign Affairs, November/December 2020, https://www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2020-10-13/better-crystal-ball.

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