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Jahrgang 2016, Ausgabe 1
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Beiträge

Soziale Innovation als neues Leitbild für soziale Entwicklung?

  1. Reinhard Hofbauer Zentrum für Zukunftsstudien der FH Salzburg

Zusammenfassung

Im vorliegenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, mit welchen Merkmalen der Begriff Soziale Innovation theoretisch bestimmt wird und ob der Terminus Potenzial für einen neuen Leitbegriff mit sich bringt. Soziale Innovationen werden aus dem Blickwinkel „neuer sozialer Praxis“ auf Merkmale wie Neuheit, Intentionalität, Wertbezug und Diffusion untersucht. Auf dieser Grundlage werden einige gebräuchliche Anwendungen des Begriffs analysiert.

Abstract

The article examines basic characteristics of 'Social Innovations' and discusses its potential for becoming a guiding concept in the context of social development. From the perspective of a 'new social practice' the characteristics of novelty, intentionality, normativity and diffusion are analyzed. The findings serve as a starting point for evaluating how the term and concept of Social Innovation is usually applied.

Keywords

1. Einleitung

Soziale Innovationen dienen heute als Bezugspunkt für Sozialbewegungen in der Armutsbekämpfung, spielen eine Schlüsselrolle in der Milleniumsagenda, in Barack Obamas Büro für soziale Innovationen, fungieren als strategische Leitlinie in EU-Programmen und zieren auch zunehmend den Namen von Forschungs-, Ausbildungs- und Beratungsorganisationen. Der EU-Kommissionspräsident fordert soziale Innovationen ebenso wie große Unternehmen und antikapitalistische Basisinitiativen.

Die Gemeinsamkeit sozialer Innovationen scheint vor allem darin zu bestehen, dass sie als dringend erforderlich erachtet werden, Neues und Gutes versprechen. Die Erwartungen an soziale Innovationen sind groß. „Social innovation seems to be the new Klondike“ (Roberts 2008).

Der Begriff der Sozialen Innovationen findet sich nicht nur in vielfältigen Anwendungsbezügen, auch in der Gesellschaftstheorie werden soziale Innovationen bereits als „Leitbegriff neuerer soziologischer Diskurse zum besseren Verständnis aktueller Modernisierungsprozesse“ gesehen (Martens 2010, S. 371). Manche schreiben sozialen Innovationen gar das Potenzial für ein neues gesellschaftliches Leitbild zu.

Der gegenwärtige Diskurs über soziale Innovationen kann als soziale Praktik verstanden werden, in dessen Vollzug die Teilnehmer versuchen, bestimmte Wirklichkeitsinterpretationen zu entwickeln, ihr Wissen zu einem Gegenstandsbereich anzugleichen und zumindest auf Zeit zu stabilisieren und dadurch eine kollektiv verbindliche Wissensordnung in einem sozialen Ensemble zu institutionalisieren (Keller 2004, S. 7).

Durch die in sie gesetzten großen Erwartungen gewinnen soziale Innovationen Zukunftsrelevanz. „Unser Erfahrungshorizont die Zukunft betreffend kann nur in Form von Erwartungen beschrieben werden“ (Minx & Kollosche 2009, S. 163). Zukünfte stellen sich so als Variationen von Erwartungen dar.

Ob soziale Innovationen die in sie gesetzten hohen Erwartungen erfüllen werden, entzieht sich heute einer empirischen Überprüfbarkeit. Zukunft ist nicht vorhersehbar, der Eintritt ökonomischer, sozialer oder sonstiger Entwicklungen ist prinzipiell kontingent. Damit könnte man es auch bewenden lassen. Dann aber würde die Frage, was der noch vergleichsweise junge Begriff der Sozialen Innovation vermag, ob er gar den Status eines neuen gesellschaftlichen Leitbilds erreichen kann, der Interpretation derjenigen Akteure, die mit dem Begriff der Sozialen Innovation operieren, ihren Interessen oder medialer Macht überlassen werden.

Man kann daher mit Grunwald (Grunwald 2009, S. 31) ein anderes Kriterium als das der Geltung heranziehen, um die Güte zukunftsbezogener Annahmen zu überprüfen. Mit Geltung meint Grunwald, dass sich zukunftsbezogene Aussagen im Diskurs erfolgreich zu verteidigen haben. Geltung bemisst sich ausschließlich nach Kriterien der Gegenwart, denn Wissen über Zutreffen oder Nichtzutreffen in der Zukunft ist in der Gegenwart, in der die Geltung beurteilt werden muss, prinzipiell nicht verfügbar. Geltung ist daher ein „Prädikat ex ante“, Eintreffen ein „Prädikat ex post“. Die Güte von Zukunftsaussagen bezieht sich somit nicht darauf, dass die erwarteten Ereignisse – im gegenständlichen Fall der Aufstieg sozialer Innovationen zu einem neuen Leitbild für die soziale Entwicklung – in einer zukünftigen Gegenwart eintreffen, „sondern auf die Gründe, die auf Basis gegenwärtigen Wissens und gegenwärtiger Relevanzbeurteilungen in Anschlag gebracht werden können, um das spätere Eintreffen zu erwarten“ (Grunwald 2009, S. 28).

In diesem Beitrag geht es nicht darum, ob von den vielfältigen Neuerungen die mit dem Label „Soziale Innovation“ versehen werden „zukunftsfähige“ Veränderungen oder Verbesserungen ausgehen können. Es geht um die Frage, ob der Begriff der Sozialen Innovation das Potenzial hat, zu einem neuen gesellschaftlichen Leitbild aufzusteigen, so wie „Fortschritt“ oder „Nachhaltigkeit“ einmal Leitbilder für gesellschaftliche Entwicklung waren. Der Fortschrittsbegriff hat seine Leitbildfunktion durch die enttäuschten Hoffnungen in eine auf steter wissenschaftlich-technischer Entwicklung beruhenden prosperierenden Zukunft teilweise eingebüßt. Der Nachhaltigkeitsdiskurs dagegen wurde bisher vorwiegend aus einer ökologischen Perspektive geführt. Nun könnten, so wird vielfach erwartet, soziale Innovationen angesichts der drängenden sozialen Probleme zu einem neuen gesellschaftlichen Leitbild avancieren, das Wege zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts zum Kern einer „zukunftsfähigen“ Entwicklung öffnet.

In diesem Beitrag werden zunächst die Voraussetzungen analysiert, unter denen ein Begriff den Status eines gesellschaftlichen Leitbildes erlangen kann. Anschließend geht es um den semantischen Kern des Begriffs Soziale Innovation. Dazu werden in einem diskursanalytisch angelegten Zugang inhaltliche Merkmale wie Neuheit, Intentionalität, Wertbezug oder Diffusion, mit denen soziale Innovationen meist theoretisch bestimmt werden, geprüft. Da gesellschaftliche Leitbilder intersubjektive Weltdeutungen mit Handlungsbezug sind, d. h. mehr als Vorstellungen, Ideen oder Werte, bietet es sich an, auch ihren Bedeutungsgehalt in der gelebten Praxis zu berücksichtigen. Daher werden anschließend einige gebräuchliche Konzepte sozialer Innovationen analysiert.

Gesucht wird eine Antwort auf die Frage, ob die angewandten Konzepte, die unter dem Dach sozialer Innovationen firmieren, nicht nur in sich kohärent sind und innerhalb ihrer eigenen Anwendungskontexte neue soziale Praktiken nach sich ziehen und Geltung beanspruchen können. Es geht um die Frage, ob die angewandten Konzepte sozialer Innovationen auch untereinander ein Maß an Konsistenz hinsichtlich Wirklichkeitsinterpretation und Orientierungsleistung aufweisen, das für ein neues gesellschaftliches Leitbild notwendig ist. Damit soll ein Beitrag zur Verständigung über die Reichweite des Begriffs geleistet werden.

1.1. Leitbilder

Begriffe wie Soziale Innovation sind nicht ontologisch festgelegt. Sie heben das hervor, was an Aspekten der Wirklichkeit für relevant gehalten wird (vgl. Bayer & Seiffert 1994, S. 37). Eine andere Sichtweise auf soziale Realität geht folglich mit der Verwendung anderer Begriffe oder einem Bedeutungswandel der Begriffe einher.

Zukunftsvorstellungen und -erwartungen vollziehen sich im Medium der Sprache. Dabei kommt gesellschaftlichen Leitbildern eine besondere Bedeutung zu, sie gelten als ,,Inbegriff der Zukunftsbezogenheit des Menschen“ (Scherke 1959, S. 27).

Wenn Begriffe sich als kollektiv geteilte Vorstellungen darüber etablieren, was als erstrebenswert und zugleich realisierbar angesehen wird, erlangen sie den Status von gesellschaftlichen Leitbildern. Leitbilder bündeln sozial geteilte (mentale oder verbalisierte) Vorstellungen von einer erwünschten bzw. wünschenswerten und prinzipiell erreichbaren Zukunft, die durch entsprechendes Handeln realisiert werden soll. Solche (praktizierten) Leitbilder müssen in der Lage sein, Wahrnehmung, Denken und Handeln derjenigen, die dieses miteinander teilen, zu strukturieren.

Leitbilder schaffen somit Erwartungssicherheiten und Gewissheiten, nicht hinsichtlich einer zu erwartenden Zukunft, sondern über das, was angestrebt und für machbar gehalten wird, indem sie bestimmte Deutungen und Bewertungsmaßstäbe anbieten, an denen eine kontingente Zukunft gemessen und beurteilt werden kann. Leitbilder eröffnen aber nicht nur bestimmte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungshorizonte, erst durch die Reduktion von Deutungsmöglichkeiten entfalten sie überhaupt erst ihre orientierende und ordnende Qualität. Innerhalb des Denkrahmens eines Leitbildes wird eine Vielfalt möglicher Orientierungen und Deutungen ausgeschlossen. Ideen stellen demgegenüber lediglich Zukunftsvorstellungen dar. Gegenüber Werten stellen Leitbilder nicht nur eine prinzipielle Vorstellung des Wünschenswerten dar, sondern eine Vorstellung über eine erwünschte und für gestaltbar angesehene Zukunft im Sinne denk- und handlungsleitender Orientierungsmuster (Giesel 2007, S. 40). Die Zukunftsbezüglichkeit von Leitbildern zeigt sich gleichsam doppelt: einerseits als Zukunftserwartung und andererseits als Handlungsbereitschaft. „Gesellschaftlicher Fortschritt“, „Soziale Marktwirtschaft“ oder „Nachhaltigkeit“ haben den Status solcher Leitbilder eingenommen.

Leitbilder sind stets historisch bedingt. Mit veränderten sozialen Realitäten wandeln sie sich bzw. verlieren ihre Funktion. Mit der Pluralisierung und Dynamisierung der Gesellschaft haben ältere Leitbilder an gesellschaftlich strukturierender Kraft eingebüßt. Das gewachsene Bewusstsein der Kontingenz der Dinge schafft in Bezug auf zukünftige Entwicklungen zunehmend Ungewissheit und Erwartungsunsicherheit.

Wenn nun sozialen Innovationen tatsächlich eine neue Leitbildfunktion zukommt, dann müssen sowohl ihre inhaltlichen Bestimmungen als auch ihre angewandten Konzepte sozial geteilte Deutungen der Wirklichkeit, Ableitungen und handlungsbezogene Schlussfolgerungen bereithalten, an denen gesellschaftliche Herausforderungen zu bewerten sind.

1.2. Innovationen

Ihren systematischen Bezugspunkt findet der Begriff der Innovation bis heute in Joseph Schumpeters 1912 vorgestellter Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Wirtschaftliche Entwicklung vollzieht sich hier als permanenter Prozess der schöpferischen Zerstörung. Ursächlich dafür sind Innovationen im Sinne einer veränderten Produktionsfunktion durch neue Kombinationen ihrer Bestandteile. Erst durch die erfolgreiche wirtschaftliche Verwertung wird eine Invention zur Innovation. Es geht also im Kern um die Durchsetzung von etwas Neuem innerhalb seines Referenzsystems, dem Markt.

Die ökonomische Perspektive auf Innovationen wurde lange Zeit auf die Einführung technische Neuerungen reduziert. Stand bis in die 1980er-Jahre die Vorstellung eines klar abgrenzbaren, linear ablaufenden Innovationsvorgangs im Vordergrund, der mit Wissenschaft und Forschung beginnt und mit marktfähigen Produkten und Dienstleistungen endet, wurde in den vergangenen Jahrzehnten deutlich, dass Innovationen als komplexe soziale Prozesse zu beschreiben sind, in deren Kern das netzwerkartige Zusammenwirken vieler beteiligter Akteure, Institutionen, Regelsysteme, Verfahren, Materialien etc. steht.

Im Zuge innovativer Prozesse werden die Elemente der Produktionsfunktion in vielfältiger Weise beeinflusst und verändert, um die „Viabilität“ des Prozesses sicherzustellen: „[...] the entrepreneur gets things done“ (Schumpeter 1942, S. 132). Die klare Trennung zwischen Theorie und Praxis fällt.

Werden Innovationen dann in spezifischen Kontexten angewendet, entstehen nicht einfach Kopien, sondern „Rekombinationen, Hybridisierungen und Fehlkopien, die im entsprechenden Kontext durchaus etwas Neues darstellen“ (Howald & Schwarz 2010, S. 21). Innovationen sind damit weniger als das Ergebnis intentionalen Handelns mit dem Ziel der Erzeugung von Neuem zu interpretieren, sondern als ein praktisches Lernen durch Anschauung und Nachahmung. Während „auf der Vorderbühne Neuheit, Innovation und Einzigartigkeit gespielt werden, finden auf der Hinterbühne primär Kopier-, lmitations- und Strukturangleichungsprozesse statt” (Krücken 2006, S. 11).

Die technische und ökonomische Innovationsforschung behandelt soziale Phänomene vorrangig im Rahmen technischer und ökonomischer Ziele und Gegebenheiten. Mit dem Terminus Soziale Innovation ist nun ein Begriff populär geworden, der Eigenständigkeit beansprucht. Es ist daher zunächst zu fragen, welche spezifischen Merkmale soziale Innovationen kennzeichnen.

2. Merkmale sozialer Innovationen

2.1. Soziale Problemlösung

Zapf definiert soziale Innovationen als „neue Wege, Ziele zu erreichen, insbesondere Organisationsformen, neue Regulierungen, neue Lebensstile, die die Richtung des sozialen Wandels verändern, Probleme besser lösen als frühere Praktiken und deshalb wert sind, nachgeahmt und institutionalisiert zu werden“ (Zapf 1989, S. 177). Ähnlich argumentiert das Zentrum für Soziale Innovationen: „Soziale Innovationen sind neue Praktiken zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen, die von betroffenen Personen, Gruppen und Organisationen angenommen und genutzt werden“ (Zentrum für Soziale Innovation 2008, S. 2). Wie bei Zapf liegt die Betonung auf der Veränderung durch neue „sozialer Praktik“ sowie der „Bewältigung sozialer Probleme und gesellschaftlicher Herausforderungen“.

Unterscheiden sich soziale Innovationen demnach durch ihre Fähigkeit zur Bewältigung sozialer Probleme von anderen Innovationen? Problemlösung kann kaum als herausragendes Merkmal sozialer Innovationen gelten, denn jedes Handeln ist, wie der Soziologe Esser feststellt, grundsätzlich problemlösungsorientiert. „Handeln ist der Versuch der Lösung drängender Probleme […] das ist eine Gemeinsamkeit fast aller Handlungstheorien“ (Esser 2002, S. 90)

Darüber hinaus ist nicht weiter begründungsbedürftig, dass auch technische und andere Innovationen wichtige Beiträge zur Lösung sozialer Probleme geleistet haben und leisten, weshalb eine spezifische Problemlösungsfähigkeit die soziale nicht von anderen Arten der Innovation abgrenzen kann.

2.2. Neue soziale Praktik

Wesentlicher erscheint dagegen die Bezugnahme auf neue soziale Praktiken als Wesensmerkmal sozialer Innovation. In der hier vorgeschlagenen Betrachtung wird das Soziale dabei nicht durch seinen ethischen Gehalt bestimmt, sondern unter dem Aspekt der Wechselwirkung gesehen. Individuen sind sowohl als Schöpfer als auch als „Betroffene“ von Wechselwirkungen zu begreifen (Häußling 2010, S. 65). Soziale Praktik entsteht also durch die „Kollektivität von Verhaltensweisen“, die durch ein spezifisches praktisches Können zusammengehalten werden (Reckwitz 2003, S. 289).

Aus der Perspektive einer solchen Praxistheorie setzt sich die soziale Welt aus einzelnen, konkret benennbaren, dabei miteinander verbundenen Praktiken, aus „typisierten, routinisierten und sozial verstehbaren Bündeln von Aktivitäten zusammen, die durch implizite und geteilte Formen des Verstehens und Wissens zusammengehalten werden“ (Reckwitz, 2003, S. 290). Wiederholung und Dynamik sozialer Praktiken sind die Mechanismen der Reproduktion und Transformation des Sozialen (Schäfer 2013).

Die Reaktion auf eine Situation ist dabei einerseits immer ein kreativer Akt, aber auch vorgeformt durch die spezifischen Handlungsfähigkeiten und -dispositionen, Konventionen und Institutionen andererseits (Howald & Schwarz 2010, S. 54).

Diese relationale Perspektive auf soziales Handeln ist in Bezug auf das Verständnis sozialer Innovationen ausgesprochen fruchtbar. Auf die Frage, wie das Neue in die Welt kommt, kann die Schöpfungstheorie, die eine Schaffung aus dem Nichts oder das kreative Hervorbringen des noch nie Dagewesenen meint, verworfen werden. So ging man bis ins 19. Jahrhundert davon aus, „dass neue Ideen, Dinge und Praktiken durch schöpferische Akte auf die Welt kommen, von genialen Denkern erdacht, von kühnen Erfindern gemacht“ (Rammert 2013, S. 31).

Dagegen geht es bei der neuen sozialen Praktik um Nachahmung, die Variation von bekannten Elementen, das Rekombinieren zu neuen Formen. Routine (Reflexionsverzicht durch Kontingenzausblendung) und Entscheidung (Verzicht auf Kontingenzausblendung) gehören nicht verschiedenen Welten an, sondern das Neue wird „im wiederholten Durchlaufen rekursiver Schleifen menschlicher Praxis sozial konstituiert“ (Ortmann 1995, S. 398). Wenn sich Neues als soziale Praxis durchsetzt, geht es in Analogie zur Evolutionstheorie auch um Besonderheiten und Zufälligkeiten, die sich erst in einer gewandelten Umwelt durch Auslese durchsetzen (Rammert 2013, S. 32).

Soziale Innovationen betreffen nicht nur die „Materialität“ des Tuns, sondern es geht – ganz im Sinne Schumpeters – um eine Neukombination sozialer Praktik. Das schließt mit ein, dass dasselbe mit anderen Mitteln oder zu einem anderen Zweck erledigt, also mit neuen Bedeutungen aufgeladen wird. Im Gegensatz zu rein technischen Innovationen, die sich in Produkten und Dienstleistungen materialisieren und über den Marktmechanismus diffundieren, oder zur biologischen Evolution, bei der die natürliche Umwelt über die Auswahl einer neuen Art entscheidet, geht es bei sozialen Innovationen um eine künstliche Selektion nach Interessen und Werten. Soziale Innovationen können sich auf der Meta-Ebene gesellschaftlicher Ziele und Normen bewegen.

Spieltheoretisch kommt es mit sozialen Innovationen zur Veränderung der Spielanlage im konkreten Feld sozialer Praxis mit seinen inhärenten Interessen, Routinen und Konflikten, wobei die beteiligten Akteure neue Formen der Praxis entwickeln und sich in deren Verlauf „die dafür notwendigen kognitiven, relationalen und organisatorischen Fähigkeiten aneignen“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 19).

Die hier vorgenommene Perspektive auf soziale Innovationen fokussiert auf die Dynamik sozialer Praxis und die wechselnden Relationen ihrer Elemente. Neuheit kann dabei von jedem dieser Elemente ausgehen. Auslöser sozialer Innovationen liegen entweder im Bereich der „Bedeutung von Dingen, Artefakten, Technologien in und für soziale Praktiken, der mit bestimmten Praktiken assoziierten Bedeutungen bzw. dem praktischen Sinn, den kulturellen und symbolischen Formen oder der Kompetenzen im Sinne von Know-how, praktischem Wissen, Hintergrundwissen oder in mehreren dieser Bereichen zugleich“ (Schwarz et al. 2015, S. 414).

Die Vorstellung von sozialen Innovationen als Voraussetzung, Begleiterscheinung oder Folge technischer Innovationen, als die Lösung drängender sozialer Probleme oder als bestimmte Intentionen von Akteuren bzw. als Lösung drängender Sach- und Handlungszwänge erweist sich daher als unterkomplex.

2.3. Neuheit

Neuheit wird schon aus etymologischen Gründen als zentrales Merkmal von Innovationen geführt. Manche Autoren fokussieren stark auf diesen Aspekt: So sieht Jens Aderhold soziale Innovationen als „überraschende Neuerungen, die durch soziale Akzeptanz und die kollektive Attribuierung von Neuem gekennzeichnet sind“ (Aderhold zitiert nach Klein 2010, S. 271).

Zum Kriterium der Neuheit kommt in Aderholds Definition die kollektive Zuschreibung. Es finden sich aber auch gänzlich subjektivierte Konzepte von „Neuheit“, die ausschließlich auf die individuelle Rezeption des Nutzers abstellen. „It matters little, so far as human behavior is concerned, whether or not an idea is ‚objectively‘ new as measured by the lapse of time since its first use or discovery. [...] If the idea seems new to the individual, it is an innovation” (Rogers 1983, S. 11). Ähnliches findet sich bei McGrath: „New [...] means new to a particular operating system. It does not necessarily mean new [...] even to the sociocultural setting within which that system is embedded“ (McGrath 1985, S. 74).

Soziale Innovationen werden in diesen Definitionen nicht zwingend als absolut und umfassend neu verstanden. Stärker von technischen und ökonomischen Innovationen inspirierte Autoren legen dabei strengere Maßstäbe an die Neuartigkeit an. Dies ist aber kaum aufrechtzuerhalten, denn bei der Attribuierung von Neuheit handelt es sich selbst um eine Konstruktionsleistung. „Es gibt kein vollständig Neues, losgelöst von jeder Beziehung zum Alten, Überlieferten“ (Bechmann & Grunwald 1998, S. 4). Diese bescheidenere Lesart von „anders als bisher“ und „in gewisser Weise neu kombiniert“ anstatt „absolut neu“ bietet sich, zumindest für soziale Innovationen, an. Bei sozialen Innovationen handelt es sich mithin meist um relative Neuheit. Das kann, so konstatiert Gillwald „leicht zu Beliebigkeit führen“ (Gillwald 2000, S. 11), denn eine exakte Trennschärfe existiert nicht.

2.4. Diffusion

Technische Innovationen werden nach herrschender Auffassung ab dem Zeitpunkt ihres Markteintritts als solche benannt (Innovation vor Diffusion), soziale Innovationen erwerben diesen Status erst durch Verbreitung (Innovation nach Diffusion). Soziale Innovationen sind damit komplexer und anspruchsvoller als technische Innovationen. Sie können weder patentiert werden, noch sind sie urheberrechtlich geschützt.

Das Kriterium der Diffusion ist zentral, denn vom Ausmaß der Verbreitung und Institutionalisierung hängt der Status sozialer Innovationen ab. Ist eine Innovation erst als soziale Praxis etabliert, wird sie zur Routine und ihr innovativer Gehalt beginnt zu verblassen. „Diffusion is the valley of death for social innovation“ (Roberts 2008, S. 73).

Auch hinsichtlich des notwendigen Grads der Diffusion variieren die Auffassungen. Gillwald erachtet aus Gründen der Operationalisierbarkeit einen Schwellenwert der Verbreitung für unverzichtbar, „wobei etwa eine erreichte Mehrheit ab 50 Prozent unter den potentiellen Anwendern als starkes Indiz für innovationsverdächtige Entwicklungen betrachtet werden könnte“ (Gillwald 2000, S. 8). Hochgerner meint dagegen, es reiche bereits, wenn eine Neuerung einen Nutzen für eine kleine Zahl von Menschen darstellt, um als soziale Innovation zu gelten (Hochgerner 2010).

2.5. Intention

Die Mehrzahl vorfindlicher Definitionen bestimmen soziale Innovationen explizit als intendiert. Beispielsweise definieren Howald und Schwarz soziale Innovationen als „eine von bestimmten Akteuren bzw. Akteursgruppen ausgehende intentionale, zielgerichtete Neukombination bzw. Neukonfiguration sozialer Praktiken“ (Howald & Schwarz 2010, S. 54).

Es spricht allerdings einiges dafür, die Intention nicht als starkes Merkmal sozialer Innovation zu verstehen. Zum einen ist jedes Handeln intendiert, zum anderen insinuiert ein starkes Gewicht auf „Intention“ eine Kausalität zwischen Intention als Ursache und Innovation als Folge. Damit wird aber eine Steuerungsillusion sozialer Innovationen genährt, die weder theoretisch noch praktisch haltbar ist. Denn Innovationen sind zwangsläufig mit Folgenunsicherheit konfrontiert. Sie sind auf Bedingungen angewiesen, die zum Zeitpunkt der Innovation eben deshalb nicht erfüllt sein können, weil es sich um die Hervorbringung von Neuem handelt – Bedingungen, die vielmehr im Zuge der Innovation selbst erst entdeckt, hergestellt und erprobt werden müssen (Sauer 1999, S. 15).

Soziale Innovationen setzen sich in jeweiligen Handlungsfeldern als komplexe, zwar plan- und gestaltbare, aber nicht kausal steuerbare soziale Praxis durch. Das „Spiel der Innovation“ (Crozier & Friedberg 1993) als kollektiv hervorgebrachte soziale Praktik hat keinen Spielanleiter, es gibt keine siegreichen Sololäufe einsamer Spielgestalter. Zwar kann es siegreiche Spielstrategien geben, aber was ursprünglich von einzelnen Akteuren oder Akteursgruppen intendiert war und „was sich schließlich als Innovation durchsetzt oder nicht durchsetzt, hängt von den Bedingungen und Ereignissen dieses kontingenten Prozesses ab“ (Franz 2010, S. 337). Hinweise auf die Einflüsse gesellschaftlicher Strukturen auf die Intentionen handelnder Akteure finden sich auch bereits bei einem immer noch aktuellen, wenn auch aus der Mode Gekommenen: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen oder überlieferten Umständen“ (Marx 1852/1960, S. 115).

Selbst aus einer dezidiert akteurstheoretischen Perspektive wie sie Esser einnimmt, ist das Neue das „meist unintendierte kollektive Ergebnis des situationsbezogenen Handelns menschlicher Akteure“ (Esser 2000, S. 309).

2.6. Wertbezug

Fast alle Definitionen von sozialer Innovation eint die Vorstellung, dass sich das Neue gegenüber dem Alten dann und nur dann durchsetzt, wenn es sich als besser gegenüber dem Alten erweist. „Etwas, eine Idee, Praktik oder ein Objekt muss aber vor allem als etwas Besseres wahrgenommen, wertgeschätzt und weiterkommuniziert werden, damit es den Status des ‚wertvollen Anderen‘ erreicht“ (Groys 1992, S. 42). Ähnlich Braun-Thürmann: Als soziale Innovation gelten materielle oder symbolische Artefakte welche „als neuartig und als Verbesserung gegenüber dem Bestehenden erlebt werden“ (Braun-Thürmann 2005, S. 6). Auch Klein sieht die normative Setzung als wichtigstes Merkmal sozialer Innovationen: „Soziale Innovation trägt zur Verbesserung der Lebens- und/oder Arbeitsqualität bei“ (Klein 2010, S. 278). Auch Mulgan und Pulford betonen den Wert des Neuen: „Specifically, we define social innovations as […] innovations that are both good for society and enhance society’s capacity to act“ (Mulgan & Pulford 2010, S. 16). Olma sieht daher in der Normativität des Konzepts die Klammer, die unterschiedlichste Konzeptionen von sozialen Innovationen zusammenhält. „A closer look at the growing social innovation scene, its organizations, conferences, publications and web-fora leads to the impression that it is held together mainly by a therapeutic belief in the ,goodness‘ and efficacy of one’s action“ (Olma 2014, S. 2).

Was soll unter einer „Verbesserung“ aber nun verstanden werden? Wer entscheidet, was besser ist und wann der Status des „wertvollen Anderen“ erreicht ist? Gillwald macht einen vorsichtigen Vorschlag zur Operationalisierung: „In erster Linie zählen auf mittelfristige und längere Sicht unter dem Strich erkennbare gesellschaftliche Nutzen: die (gegenüber der vorherigen) bessere Lösung als konstitutives Merkmal von sozialen Innovationen“ (Gillwald 2000, S. 14).

In bewusster Analogie zu den Systemen sozialer Indikatoren zur Messung gesellschaftlicher Wohlfahrt definiert Gillwald den gesellschaftlichen Nutzen dabei mehrdimensional und entwirft ein fünfgliedriges Schema, „das auch für Veranschaulichungen von Merkmalen sozialer Innovationen taugt“ (Gillwald 2000, S. 14). In dieses Schema nimmt sie ökonomische, soziale und politische sowie „aufgrund der inzwischen hohen Bedeutung postmaterieller Werte“ (Gillwald 2000, S. 14) auch ökologische und kulturelle Dimensionen auf.

Damit ist aber nichts gewonnen, wie aus den jahrzehntelangen Debatten um die Wohlfahrtstheorie bekannt ist. Denn wie sollten verschiedene Nutzendimensionen auf einer Skala zusammengeführt werden, damit es am Ende zur Qualifikation als soziale Innovation reicht? Offensichtlich kann etwas sozial und ökologisch nützlich, aber ökonomisch nutzlos sein. Hier treffen unterschiedliche Rationalitäten aufeinander, deren gegenseitige formale Verrechnung entlang einer Nutzendimension theoretisch nicht zu lösen, sondern nur als ständig variierender Prozess deliberativer sozialer Praxis möglich ist. Eine vorgegebene Gussform zur Kennzeichnung von Neuerungen als soziale Innovation gibt es nicht. Daher scheint es angebracht, die „Verbesserung“ mit Lindhult besser als „Neuerung“ im Sinne der Problemlösung ohne objektiven Wertbezug zu interpretieren. „There is no inherent goodness in social innovation“ (Lindhult 2008, S. 44).

Zudem sind soziale Innovationen, verstanden als neue soziale Praxis, oft besser als schlichte Anpassungsreaktionen an veränderte Umweltanforderungen zu interpretieren. Multitasking, verändertes Ernährungs- (Fast Food) oder Freizeitverhalten (Couch-Potatoes) sind als veränderte soziale Praxis gesellschaftlich diffundiert, ohne dass sie je kognitiv als „bessere Problemlösung“ (Rammert 2013, S. 34) bewertet oder „als wertvoll erfahren“ (Rammert 2013, S. 34) wurden. Gleiches lässt sich für neue Aktionsformen rechtspopulistischer Bewegungen sagen.

2.7. Konflikt

Viele Konzepte sozialer Innovationen erwecken recht durchgängig den Eindruck, es handle sich bei sozialen Innovationen um Positivsummenspiele – bei denen alle Beteiligten bessergestellt werden – und somit um „gesellschaftliche Verbesserung“.

Diese normative Verknüpfung sozialer Innovationen mit gesellschaftlich hoch anerkannten Werten und Zielen sieht von der Tatsache ab, dass, je nach tangierter Nutzendimension und geltender Rationalität, durchaus unterschiedliche Zwecke und Interessen mit einer sozialen Innovation verfolgt werden. Dementsprechend müssen intendierte oder nichtintendierte Veränderungsprozesse keineswegs per se als sozial wünschenswert bewertet werden, um als soziale Innovation bezeichnet werden zu können.

Damit wird ein wesentlicher Aspekt sozialer Praktik in den Blick genommen, nämlich die regelhaft konflikthafte Natur sozialer Praktik. Crozier und Friedberg weisen darauf hin. Sie definieren soziale Innovation „als Prozess kollektiver Schöpfung, in dessen Verlauf die Mitglieder einer bestimmten Gesamtheit neue Spielweisen für das soziale Spiel der Zusammenarbeit und des Konflikts, mit einem Wort eine neue Praxis erlernen, das heißt, erfinden und festlegen“ (Crozier & Friedberg 1993, S. 19).

Soziale Innovationen setzen sich also regelmäßig gegen Widerstände durch. Die konflikthafte Hervorbringung einer neuen Praxis ist aber nicht stationär zu verstehen, sondern als dynamischer Prozess, indem Ressourcen, Ansprüche und Widerstände modifiziert werden können.

Beispielhaft lässt sich der ambivalente und konflikthafte Aspekt der Durchsetzung neuer sozialer Praxis an der Einführung und Diffundierung des Mitarbeitergesprächs in Betrieben zeigen, das als Managementinstrument zur Steigerung der Leistungsbereitschaft der individuellen Arbeitskraft entwickelt wurde. Insbesondere die Forcierung der individuellen Kreativität, Flexibilität und Innovationsbereitschaft (Marrs 2010) traf immer wieder auf Widerstände durch Betriebsräte und Gewerkschaften, die auf die Gefahren subjektivierter Arbeit hinwiesen und im Mitarbeitergespräch mit seinen Zielvereinbarungen vorrangig den Versuch der Überwälzung der Ergebnisverantwortung auf Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sahen.

Das Mitarbeitergespräch liegt an der Schnittstelle unterschiedlicher Rationalitäten zwischen betriebswirtschaftlicher Leistungslogik und individuellen psychischen Systemen. Insofern kann das Mitarbeitergespräch nicht als einfaches Positivsummenspiel verstanden werden, sondern erweist sich als prinzipiell konfliktbehaftetes und kontextbedingtes Kommunikations- und Regelungsverfahren in der betrieblichen Praxis.

Ich fasse zusammen: An den für soziale Innovationen wesentlichen Merkmalen wie Problemlösungskapazität, Intentionalität, Neuheit, Diffusion oder expliziter Wertbezug lässt sich zeigen, dass soziale Innovationen sehr unterschiedlich definiert und gedeutet werden. Ein über den Aspekt der Neuerung hinausgehender substanzieller und sozial geteilter Wesenskern lässt sich nicht erkennen. Darüber hinaus erweisen sich viele der vorgebrachten Bestimmungsmerkmale auch als nicht oder nur bedingt tragfähig für eine sozialwissenschaftlich haltbare Definition. Am Ende bleibt daher: bei sozialen Innovationen handelt es sich um die konfliktreiche Herausbildung und Durchsetzung neuer Formen und Prozesse sozialer Praktik. Sie können überall auftreten, sind systemisch komplex, hochgradig kontext- und interaktionsabhängig, nur sehr eingeschränkt steuerbar und zeigen nichtlineare Verlaufsmuster.

Es stellt sich die Frage: Wenn eine Veränderung, die sich tatsächlich vollzogen hat, von niemandem intendiert war, noch Problemlösungsvermögen, Diffusionsgrad oder das normativ Gute überzeugende Kennzeichen sozialer Innovationen darstellen, worin besteht dann ihr heuristischer Mehrwert? Reicht es dann nicht auch, von sozialem Wandel zu sprechen? W. Ogburn führte den Ausdruck sozialer Wandel ein und verstand darunter einen evolutiven gesellschaftlichen Prozess, womit er die zu seiner Zeit populären Begriffe wie „sozialer Fortschritt“ oder „Höherentwicklung“ vermeiden wollte. Sozialer Wandel bezeichnet eine nichtnormative, zukunftsoffene Entwicklung, die immer auch Rückschritte und Irrwege einbezieht. Der Begriff ist nicht nur richtungs- und dimensionslos, es fehlt ihm auch eine normativ geladene Leitvorstellung, die auf den Handlungsaspekt Bezug nimmt. Esser bezeichnet sie als einzig seriöse Art, über Wandel in der Gesellschaft zu sprechen (Esser 2002, S. 307).

Während sozialer Wandel dauerhafte Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen bezeichnet, haben soziale Innovationen geänderte soziale Praktiken mit unterschiedlichen Reichweiten zum Inhalt. Diese können sich auf der semantischen Ebene von Bedeutungen, der Ebene von Handlungen oder im Rahmen institutionellen Veränderungen vollziehen.

Nach der theoretischen Annäherung an den Begriff Soziale Innovation sollen im Folgenden einige gebräuchliche Verwendungen von Konzepten Sozialer Innovation schlaglichtartig daraufhin untersucht werden, in welchem Kontext der Begriff Verwendung findet. Für die Frage, ob soziale Innovationen über die für ein Leitbild notwendigen Voraussetzungen verfügen, kommt der Überprüfung ihres Anwendungsbezugs eine noch höhere Bedeutung zu als den (bisherigen) theoretischen Überlegungen.

3. Anwendungsfelder sozialer Innovation

3.1. Soziale Innovationen im Rahmen politisch-institutioneller Strategien

Seit den frühen 2000er-Jahren werden soziale Innovationen von hochrangigen Organisationen wie der OECD und der EU-Kommission als eigenständiger Begriff thematisiert, im Gefolge der Finanzkrise avancierten soziale Innovationen zu einer politisch-institutionellen Strategie. „Kreativität und Innovation im Allgemeinen und soziale Innovation im Besonderen sind gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise die wesentlichen Faktoren für die Förderung von nachhaltigem Wachstum, die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ (Barroso 2009). Soziale Innovationen werden damit als neues Instrument zur Erreichung traditioneller Ziele angesprochen.

Die EU sieht drei zentrale Ansatzpunkte für soziale Innovationen (Bureau of European Policy Advisers 2014, S. 7): Erstens die Deckung von Bedürfnissen, die nicht vom Markt oder anderen Institutionen befriedigt werden. Genannt werden hier neue Lösungen zur Bewältigung von Problemen junger Migranten, Älterer, ausgegrenzter Personen usw. An diesen Ansatzpunkt knüpft vor allem die Social-Entrepreneurship-Szene an. Der zweite Ansatzpunkt nimmt die gesellschaftliche Entwicklung als Ganzes und ihre nachhaltige Entwicklung in ökonomischer, sozialer und ökologischer Hinsicht in den Blick. Der dritte Ansatzpunkt fokussiert auf die Ebene der Akteure und fordert „a process of organisational development and changes in relations between institutions and stakeholders“ (Huysentruyt et al. 2013, S. 7). Vor allem der dritte Ansatzpunkt verdient Beachtung, weil er sowohl auf den polit-ökonomischen Kontext verweist, unter dem die EU-Kommission soziale Innovation propagiert, und gleichzeitig die Begründung für den Einsatz von sozialen Innovationen liefert. Soziale Innovation wird dabei als Antwort auf die Erfolglosigkeit herkömmlicher Instrumente bei der Bearbeitung sozialer Probleme gesehen. Weder Markt noch Staat und auch nicht Non-Profit-Organisationen hätten sich als erfolgreiche soziale Problemlöser etabliert, wiewohl die Bereitschaft zu sozialem Engagement hoch sei. Aber die Menschen hätten sich in ihrem Engagement „to traditional non-profit models as the vehicle through which to channel their energies“ gewandt (Huysentruyt et al. 2013, S. 9). „These activities have often been highly dependent on government subsidies or private donations and faced the difficulty of realising a long-lasting, sustainable difference” (Huysentruyt et al. 2013, S. 9).

Angesichts knapper öffentlicher Mittel sei daher verstärkt die Kreativität der Menschen gefragt, um soziale Innovationen auszulösen.

Bei genauerer Betrachtung stellt sich soziale Innovation vor allem als Mittel heraus, das Menschen befähigt, selbst sozialunternehmerisch tätig zu sein, um Gutes zu tun. „Empowering people driving change“ lautet das Motto. Die unternehmerische Bearbeitung sozialer Probleme außerhalb gewohnter Bahnen wird als zukunftsträchtig beschrieben, denn „trends in demography, community and social media, poverty, the environment, health and wellbeing, or ethical goods and services are more and more understood as growth markets“ (Huysentruyt et al. 2013, S. 9). Anwendungsbereiche sozialer Innovationen finden sich vor allem auf lokaler Ebene, um regionale Probleme zu lösen.

Die vielfältigen Problemlagen werden als Chance für neues Wachstum gesehen, die Instrumente verbleiben in ökonomisch recht gewohnten Bahnen des New Public Management. „Public-Private-Partnership is a tool to deliver more effective and efficient primary social services, which have so far been historically provided by the welfare State“ (Huysentruyt et al. 2013, S. 29).

Zusammenfassend lässt sich das hier vorfindliche Verständnis sozialer Innovationen als mikroökonomische Strategie sozialer Problembearbeitung bezeichnen, bei der Menschen in der Unternehmerrolle zu Trägern dieser sozialen Innovationen avancieren. Soziale Innovationen werden hier in bewusster Abgrenzung zu traditionellen Trägern der Sozialpolitik propagiert, als kohärente Strategie zum Umbau des Sozialstaats, die Jessop treffend als „caring liberalism“ bezeichnet hat (Jessop et al. 2014).

3.2. Soziale Innovation als Entrepreneurship

Gleichsam als ausführendes Organ der polit-ökonomischen Innovationsstrategie hat sich in den letzten Jahren eine ambitionierte Sozialentrepreneurship-Szene entwickelt. In Selbstbeschreibungen verbinden Social Entrepreneure eine Unternehmertätigkeit mit einer sozialen Mission. So kommt Ashoka, nach eigener Angabe seit über 30 Jahren die weltweit führende Organisation zur Förderung von Social Entrepreneurship, auf der Startseite ihrer Homepage ohne Umschweife auf den Punkt: „Unsere Mission: Die Welt retten“. Die Weltrettung erfolgt nach Ashoka in Gestalt des innovativen Sozialentrepreneurs: „Gesellschaftlicher Wandel braucht viele Changemaker und innovative Social EntrepreneurInnen […] Wir suchen laufend nach herausragenden Menschen mit unternehmerischen Geist, die mit ihrer Idee ihren Sektor revolutionieren und dabei die dringlichsten Probleme unserer Gesellschaft lösen“ (Ashoka GmbH 2016).

Der Socialentrepreneur wird in der Tradition des Schumpeterschen Unternehmers oft als charismatische Führungskraft gesehen. Er ist kreativ, ein Schöpfer von Neuem. Prinzipiell hat jeder das Potenzial zum Innovator. „Everyone is a changemaker!“ (Drayton 2006).

Die Social Entrepreneurship-Szene ist bunt und in diversen Handlungsfeldern aktiv, vorrangig aber in der Bearbeitung sozialer Probleme. Der kleinste gemeinsame Nenner sieht „Social Entrepreneurs als Akteure bzw. Akteurskonstellationen, die innovative Lösungen für soziale Probleme mit unternehmerischen Mitteln entwickeln und vorantreiben“ (Jähnke et al. 2011, S. 11).

Gegenüber traditionellen sozialpolitischen Instrumenten sehen sich Sozialentrepreneure als Träger sozialer Innovationen durch die Verfolgung eines sozialen Mehrwerts. Ziegler macht das zum Merkmal seiner Definition: „Social Entrepeneurs können durch ihr Vermögen, sich neue Kombinationen von Capabilities vorzustellen und auch umzusetzen charakterisiert werden […] Soziale Innovation ist die Ausführung neuer Kombinationen von Capabilities“ (Ziegler 2011, S. 273).

Neben dem Anspruch, sozialen Mehrwert zu generieren, gilt oftmals die Finanzierung durch eigene oder fremde Finanzquellen wie Stiftungen, Risikofonds, Unternehmen und vermögende Privatpersonen als wichtiges Kennzeichen von Sozialunternehmen. Auch wenn zwischenzeitlich öffentliche Förder- und Finanzierungsprogramme für Social Entrepreneurship aufgelegt wurden, wird Sozialunternehmen im engeren Sinne oft eine transformative Kraft zugeschrieben. „Sie gestalten bestehende Herangehensweisen konsequent und oft radikal neu und um, so dass gemeinnützige Ziele systematisch effektiver und nachhaltiger erreicht werden können“ (Centrum für soziale Investitionen und Innovationen 2013).

Hinter dem Anspruch radikaler Neugestaltung treten Konfliktlinien zur herkömmlichen Sozialwirtschaft hervor. So werden etwa in der Online-Enzyklopädie Wikipedia zum Stichwort Social Entrepreneurship als Abgrenzungsmerkmal zur traditionellen Sozialwirtschaft deren ständigen Zuwendungen oder leistungsbasierten Einkünfte von Sozialversicherungsträgern und Sozialhilfeträgern angeführt, was offenbar als innovationshemmend und wenig unternehmerisch eingeschätzt wird (Wikipedia 2016).

Die Kritik an einer wenig leistungsfähigen Sozialwirtschaft paart sich mit einer Kritik am Leistungsvermögen des Staates: „Der Staat ist mit dem Anspruch, räumliche Disparitäten auszugleichen, ‚gleichwertige’ Lebensverhältnisse zu ermöglichen und Lösungen für soziale Problemlagen zu erwirken, als alleiniger Akteur überfordert. Er braucht starke Partner, die sich sozialer Probleme annehmen und in der Lage sind, innovative Lösungsansätze zu entwickeln bzw. durchzusetzen“ (Jähnke et al. 2011, S. 7). Aber nicht nur der Staat ist überfordert, gleiches gilt auch für die Bürgergesellschaft. Vor diesem Hintergrund, heißt es, werde heute vermehrt Hoffnungen auf Menschen gesetzt, die sich als „Social Entrepreneurs“ der Lösung sozialer Aufgaben mit unternehmerischen Mitteln zuwenden.

In dieser Konzeption agiert der innovative Social Entrepreneur als Vollzugsinstanz sozialer Innovationen. Dieser steht gleichsam auf der Angebotsseite einer vom Staat bestellten Nachfrage nach günstigen und flexiblen Leistungen. Entkleidet man die Rhetorik einer „innovativen Sozialdienstleistung mit sozialem Mehrwert“ auf ihren Kern bleibt als Neuerung oder Verbesserung vor allem ein geändertes ökonomisches Verhältnis.

Der Neuerungscharakter des Sozialentrepreneurs ist freilich nicht unumstritten, denn im Gegensatz zum gewöhnlichen Entrepreneur trifft er mit seinem Leistungsangebot in der Regel nicht auf zahlungskräftige Kunden, solange sein sozial innovatives Geschäftsfeld aus Leistungsangeboten für vulnerable Gruppen besteht. Sozialentrepreneure sind daher auf alternative Finanzierungen angewiesen. Sobald diese von der öffentlichen Hand kommen unterscheidet sich der Sozialentrepreneur nicht von herkömmlicher sozialwirtschaftlicher Aktivität. Stammt sie aber von privaten Financiers, bleibt sie auf deren Gunst angewiesen. „One of the difficulties with the notion of social entrepreneurship [...] is that it is not connected to a general theory of entrepreneurship, but is usually used as a slogan or inspiring phrase“ (Swedberg 2009, S. 26).

Die Kohärenz dieses Konzepts sozialer Innovation liegt weniger in einer (Dienstleistungs-)Innovation als in der neuen Trägerschaft, folglich in der Diffusion eines neuen Arrangements der sozialen Leistungserbringung. Diese Konzeption sozialer Innovation ist mit Blick auf das Kriterium der neuen sozialen Praxis und vor dem Hintergrund des Narrativs der Erosion sozialstaatlicher Leistungsfähigkeit und öffentlicher Verantwortung durchaus zukunftsträchtig.

3.3. Soziale Innovation als progressive Sozialraumentwicklung

In einem anderen, besonders im angloamerikanischen Raum populären Zugang werden unter expliziter Bezugnahme auf den Begriff der Sozialen Innovation Veränderungen des institutionellen Machtgefüges verfolgt, allerdings innerhalb einer dezidiert nichtmarktwirtschaftlichen Bottom-up-Strategie. Zwei Dimensionen sind konstitutiv für dieses Verständnis von sozialer Innovation: „The first is the value orientation that motivates people to pursue social change and legitimizes their action […] The second dimension concerns the process of institutionalization and serves as the engine of social innovation” (Haddock & Tornaghi 2015, S. 265). Institutionalisierung meint zunächst die Penetration des öffentlichen Raums mit innovativen Praktiken und anschließend die Überführung dieser Praxis in stabile Formen öffentlicher Verwaltung. Sozialinnovatoren agieren dabei als lokal handelnde Agenten sozialen Wandels jenseits kapitalistischer Marktlogik.

„While in general this reorientation of innovation away from the prioritization of profit-oriented, market-mediated economic expansion depends on a wide range of bottom-up initiatives meant to revalorize a diversity of social use values“ (Jessop et al. 2014, S. 119). Der Begriff Soziale Innovation findet sich dabei regelmäßig im Kontext der Entwicklung gemeinwohlorientierter Ökonomien, partizipativen Einrichtungen zur Erbringung lokaler sozialer Dienstleistungen, von Umweltinitiativen, Initiativen zur Humanisierung verschiedener Lebensbereiche etc.

Im Verständnis dieser Initiativen besteht das Neue und Bessere von sozialen Innovationen sowohl in der innovativen Materialität als Leistungsoutput als auch in einer sozialethisch begründeten emanzipatorischen Praxis sozialen Handelns.

Eine besondere Rolle wird in diesem Ansatz der Sozialwissenschaft zugeschrieben: Analog zu den innovationserzeugenden Technik- und Naturwissenschaften wird diese als Schöpfer von Sozialen Innovationen und damit als Gestalter des sozialen Wandels thematisiert. Wissenschaftlicher Anspruch und praktische Problemlösung gehen in der Tradition der Aktionsforschung ineinander über. Wissenschaftsmethodisch folgt sie klassischerweise den Schritten (1) Planung, (2) soziale Intervention im Feld und (3) Reflexion über die Resultate der Intervention.

Auch ein solches Konzept sozialer Innovation im Sinne einer veränderten sozialen Praxis kann formal kohärent begründet werden. Vielfältige lokale Initiativen, von Energiegenossenschaften, über Erzeuger-Verbraucherinitiativen, Tauschringe, Selbsthilfegruppen, Freiwilligeninitiativen usw. zeigen, dass von kleinen Initiativen nachhaltige Innovationen ausgehen können, sie historisch gewachsene institutionelle Arrangements ergänzen und damit neue Formen sozialer Praxis darstellen.

Ob dieser Ansatz sozialer Innovationen – was im Rahmen dieses Beitrags nicht im Vordergrund steht – auch als Analyserahmen für zukünftige Entwicklung taugt, wird zunächst von der Reichweite und Diffusionstiefe der Neuerung abhängen. Zunächst kommen die Begrenzungen in den Blick: Die Vorstellung, dass eine über lokale Einzelinitiativen angestoßene Veränderung gesellschaftlicher Praktiken möglich wäre, läuft schnell auf die Gefahr einer induktiv verkürzten Vorstellung sozialer Prozesse hinaus. Ebenso ist bezüglich der Potenziale bürgerschaftlichen Engagements von unten Zurückhaltung angebracht: Orientierungen und aus ihnen folgende Handlungsbereitschaft und Tatkraft sind zunehmend kontext- und situationsabhängig, zeitlich begrenzt und in ihrem Gültigkeitsbereich wenig umfassend. Das heißt: Orientierungen und Handlungsbereitschaft betreffen meist nur noch einen Teilausschnitt des gesellschaftlichen oder individuellen Lebens.

Dass die Entfesselung menschlicher Kreativität durch soziale Innovationen als Hebel ausreicht, um zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beizutragen, kann mit Roberts daher bezweifelt werden: „The language around social innovation easily slides into smoke and mirrors. One definition says it’s finding new ways to satisfy unmet social needs. Certain problems are proving intractable – climate change; an ageing population; long-term chronic diseases; economic inequality. How do we generate social change from the bottom up, releasing the capacity in people to find fresh solutions?“ (Roberts 2008).

4. Fazit

Soziale Innovation ist ein moderner Begriff mit einer erstaunlich steilen Begriffskarriere. Eine Fülle von unterschiedlichen Sachverhalten, Gegenstandsbereichen oder Problemlösungsansätzen wird als soziale Innovation codiert. Der Diskurs über soziale Innovationen ist dabei von heterogenen theoretischen und methodischen Zugriffen gekennzeichnet. Über die Merkmale Intention, Diffusionstiefe, Neuheit und Normativität lassen sich soziale Innovationen theoretisch nicht hinreichend definieren. Auch Bemühungen, den Begriff hinsichtlich eines spezifischen Referenzsystems festzulegen, erweisen sich als untauglich.

Festgehalten werden kann: Soziale Innovationen finden statt, sie können in allen gesellschaftlichen Bereichen von allen Elementen ausgehen und stellen daher kein eigenständiges, abgrenzbares Handlungsfeld dar. Im Kern handelt es sich bei sozialen Innovationen um nicht mehr und nicht weniger als die konfliktreiche und dynamische Durchsetzung neuer Formen und Prozesse sozialer Praktik. Soziale Innovationen sind als ko-evolutionäre Mehrebenenprozesse zu charakterisieren, in denen sich kollektive Akteure, Institutionen und Prozesse wechselseitig beeinflussen und zahlreiche geplante, nichtintendierte und unkontrollierte Entwicklungen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen ineinanderwirken.

Die in diesem Beitrag besprochenen Anwendungskonzepte sozialer Innovation erweisen sich als theoretisch wenig reflektiert. Kennzeichnend für die Begriffsverwendung ist, dass die Veränderung, das Neue und Andersartige als substanziell gut und notwendig erachtet wird. Die Elemente, von denen Neues ausgeht, werden ontologisch, im Ergebnis aber meist eindimensional bestimmt.

Unter dem Label „Soziale Innovation“ werden von Basisinitiativen antikapitalistisch motivierte Aktionen gesetzt. Das Neue und wertvolle Andere wird dabei darin gesehen, dass Leistungen jenseits marktwirtschaftlicher Leistungslogik und auch jenseits hoheitlicher Macht erbracht werden. Unter dem Begriff werden ebenso von finanzstarken Organisationen recht konventionelle marktkonforme Neuerungen auf Märkten propagiert. Mehr oder weniger mächtige politisch-institutionelle Organisationen verfolgen ihre politischen Reformstrategien, Sozialentrepreneure und Unternehmensberater bewerben ihre Produkte und Dienstleistungen unter dem Etikett „Soziale Innovation“.

Im Anwendungsbezug zeigt sich als ein wesentliches Moment die hohe Erwartungsladung des Begriffs mit teils ins Skurrile überzogenen Hoffnungen und Ansprüchen an die Gestaltungskapazitäten sozialer Innovationen. Soziale Innovationen erscheinen als Panazee zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Der politisch-institutionelle Apparat, der aufgrund der „Transintentionalität des handelnden Zusammenwirkens […] am stärksten einer Logik des Misslingens unterliegt“ (Schimank 2010, S. 199) ruft soziale Innovationen besonders gerne auf, wenn angestrebte Veränderungen aus Gründen mangelnder Ressourcen (Geld, Macht, Wissen) nicht erreichbar erscheinen.

Dabei wird aber keine Großtheorie angeboten, sondern es erfolgt eine „sachliche, zeitliche und soziale Teilung [gesellschaftlicher] Probleme, die damit ihr überwältigendes Ausmaß verlieren“ (Zapf 1997, S. 39), bei der das einzelne Individuum als sozial verantwortlicher Akteur angesprochen wird.

Damit zeigen sich soziale Innovationen mit Blick auf ihre theoretische Bestimmung als anschlussfähig an Sozialtheorien, die die interpretative Dimension der Situation betonen und dem individuellen Akteur mehr situativ kreative Eigenleistung und Handlungskompetenz abverlangen. Die hohe Erwartungshaltung an soziale Innovationen erfüllt vielfältige kommunikative Funktionen wie Unsicherheitsabsorption oder Motivation. Soziale Innovationen werden so als strategische Ressource eingesetzt, um Projekte zu legitimieren und finanzielle oder politische Unterstützung zu akquirieren.

Alle in diesem Beitrag angesprochenen angewandten Konzepte sozialer Innovationen können innerhalb ihrer Anwendungskontexte durchaus Geltung beanspruchen und zweifellos geht von ihnen in unterschiedlichem Ausmaß hinsichtlich Intensität und Dauerhaftigkeit Neues aus. Anders verhält es sich mit der für diesen Beitrag maßgeblichen Frage nach der gesellschaftlichen Leitbildtauglichkeit des Begriffs.

Gesellschaftliche Leitbilder etablieren sich als kollektiv geteilte Vorstellung darüber, was als erstrebenswert angesehen wird. Sie entstehen als Sinn- bzw. Interpretationsgemeinschaften auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen und deren Interpretation durch die Akteure und „bilden geteilte Sinnsysteme und Bedeutungsuniversen“ (Giesel, 2007, S. 233) aus. Durch die Reduktion von Deutungsmöglichkeiten der Wirklichkeit entfalten sie ihre Orientierungsqualität und strukturieren handlungsbezogene Ableitungen und kommunizierbare Schlussfolgerungen.

Diesen Ansprüchen an ein gesellschaftliches Leitbild genügen soziale Innovationen nicht. Unter dem begrifflichen Dach „Soziale Innovation“ firmieren Konzepte, denen es untereinander an Konsistenz fehlt. Es fehlt dem Begriff ein ausreichendes Maß an kollektiver Orientierung an dem „wertvollen Anderen“. Die Orientierungsprobleme betreffen alle Orientierungsdimensionen: die Dimension der Lage (Gegenwartsinterpretation), des Wegs (Mittel) und des Ziels (gemeinsame Wertvorstellung).

Mit dem Begriff Soziale Innovation operieren gegenwärtig heterogene Anspruchsgruppen mit unterschiedlichen Instrumenten zur Erreichung unterschiedlicher Ziele. Der Begriff oszilliert derzeit irgendwo zwischen politisch-institutioneller Reformstrategie, Change-Management-Geschäftsfeld, Empowerment-Bewegung und Sozial Entrepreneurship. Ein kollektiv geteilter semantischer Kern existiert nicht und ist daher auch nicht kommunizierbar. Der Begriff ist ein moderner Prozessbegriff, dem es an Substanz fehlt. Daher spricht wenig dafür, dass er sich dauerhaft als Leitbild für soziale Entwicklung etablieren kann.

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