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Jahrgang 3(2014), Ausgabe 1
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Projektberichte

Projektbericht RACE2050

Entwicklung einer innovativen und verantwortungsvollen Agenda für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Transportindustrie bis 2050

  1. Hans-Luidger Dienel Technische Universität Berlin, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre, Fachwissenschaft Arbeitslehre/Technik
  2. Massimo Moraglio Technische Universität Berlin, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre, Fachwissenschaft Arbeitslehre/Technik
  3. Robin Kellermann Technische Universität Berlin, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre, Fachwissenschaft Arbeitslehre/Technik

Zusammenfassung

Die RACE2050-Zukunftsstudie zielt darauf ab, wesentliche Erfolgsfaktoren für ein nachhaltiges Wachstum der europäischen Transportindustrie zu identifizieren, um daraus Politikempfehlungen bis zum Jahr 2050 zu formulieren. Dafür werden eine Vielzahl bestehender Zukunftsstudien aus dem Transportbereich in einem „Synopsis Tool“ zusammengeführt, um sie anschließend hinsichtlich ihrer Projektionen, Zielstellungen und insbesondere hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele zu vergleichen und zu beurteilen. Die Ergebnisse dieser Analyse werden mit unterschiedlichen Experten aus Transportindustrie, Forschung und Politik gemeinsam diskutiert. Daraus entwickelt das Projekt schließlich in Form eigener Szenarien für 2030 und 2050 Kernkonzepte für eine nachhaltige und wettbewerbsfähige europäische Transportindustrie.

Abstract

RACE2050 foresight study aims to identify key success factors for a sustainable growth of the European Transport industry and for policies which can increase its strength in a long perspective up to 2050. By integrating the tremendous available foresight intelligence into a comparative synopsis, we will be able to compare and assess various visions and especially different policies to reach these goals. The results of this analysis will be discussed with experts from the transport industry, research, policy, and the foresight field. By this, we will come up with weighted explanations and long duree core concepts for a sustainable strength of the European transport industry.

Keywords

1. Einleitung

Während viele europäische Industriebereiche in den letzten vier Jahrzehnten durch den globalen Wettbewerb Einbrüche erlitten, stark geschwächt wurden (z. B. Textilindustrie) oder fast ganz verschwanden (z. B. Bergbau), blieb die europäische Transportindustrie auf globaler Ebene insgesamt vergleichsweise stark und wettbewerbsfähig. Der Transportsektor gilt heute nach wie vor als einer der größten und wettbewerbsfähigsten Bereiche der europäischen Industrielandschaft. Dieser Befund gilt generell für Produzenten als auch für Verkehrsdienstleister, wobei sich bei näherem Blick wohlgemerkt große Unterschiede innerhalb einzelner Branchen auftun. So mussten etwa der Schiffbau (abgesehen von Kreuzfahrtschiffen und anderen Spezialschiffen), die Motorradindustrie und einige weitere Segmente starke Rückgänge verzeichnen. Doch trotz dieser branchenspezifischen Rückgänge steht die europäische Transportindustrie in der Gesamtschau relativ robust da, was insbesondere für das stärkste europäische Segment zutrifft, die Automobilindustrie. Die EU ist noch immer einer der weltweit größten Produzenten von Kraftfahrzeugen, die Automobilindustrie bleibt somit nach wie vor ein zentraler Baustein europäischen Wohlstands. Die Branche ist ein entscheidender Arbeitgeber für qualifizierte Fachkräfte und besetzt eine Schlüsselfunktion im Bereich von Wissensproduktion und Innovationskraft. Die europäische Automobilindustrie, die heute mit Abstand mehr exportiert als sie importiert, repräsentiert zudem Europas größtes Feld privater Investitionen im Bereich von Wissenschaft und Forschung und trägt nicht zuletzt einen erheblichen Teil zum europäischen Bruttoinlandsprodukt bei. Diese positive Bilanz trifft auch auf andere Segmente zu, wie etwa auf die Luftfahrt- und Eisenbahnindustrie, aber auch auf den Bereich der Schifffahrtsgesellschaften und Reiseveranstalter.

Die offensichtliche Stärke des europäischen Transportmarktes ist zum Teil der Grund dafür, dass bekannte europäische Produktionsfirmen ihre rückläufigen Geschäftszweige verlassen und sich in Richtung des Transportgeschäfts geöffnet haben. Zwei prominente Beispiele sind Preussag, ein führender Stahlhersteller, der sich zum weltgrößten Tourismusanbieter TUI entwickelt hat, und Siemens, das sein traditionelles Hauptgeschäft (Kommunikationstechnologien) schrittweise verkauft hat, während sich in der gleichen Zeit der Transportsektor (Siemens Mobility) substanziell vergrößerte.

Die RACE2050-Zukunftsstudie zielt vor diesem Hintergrund darauf ab, Wege zu ergründen, um die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Transportindustrie auch in der Zukunft dauerhaft aufrechtzuerhalten.

2. Projektbeschreibung

Das 30-monatige Forschungsprojekt RACE2050 – finanziert im 7. Europäischen Forschungsrahmenprogramm FP7 (2007–2013) – identifiziert seit seinem Start im Herbst 2012 wesentliche Erfolgsfaktoren für ein klima- und umweltfreundliches sowie sozialverträgliches Wachstum der europäischen Transportbranche und formuliert Maßnahmen, um diese Wettbewerbsfähigkeit in den nächsten Jahrzehnten bis 2050 erhalten und steigern zu können. Ein Konsortium von sechs europäischen Forschungsinstitutionen – koordiniert von der TU Berlin – wird dabei die wichtigsten Triebkräfte gesellschaftlichen und industriellen Wandels durch die Analyse gegenwärtiger Zukunftsstudien und deren Blick auf Transportpolitik, neu entstehende Technologien, Energie- und Umweltaspekte, Nachfragekräfte, geopolitische Trends und die Analyse anderer transportrelevanter Bereiche identifizieren.

Der Ansatz von RACE2050 zur Entwicklung Ansatz zur Entwicklung einer langfristigen Zukunftsstudie für die Transportindustrie bis 2050 basiert auf Grundlage einiger Dutzend bereits existierender Szenarien, die jedoch weitgehend isoliert voneinander rezipiert werden.

RACE2050 zielt deshalb darauf ab, eine abstrahierte Gesamtschau aktueller und vergangener Zukunftsstudien aufzubauen, um dies als Grundlage dafür zu nutzen, neue diskursive und handlungsleitende Szenarien für den mittelfristigen (2030) und den langfristigen Zeitraum (2050) zu kreieren.

Die meisten der gegenwärtigen Zukunftsstudien zielen nicht darauf ab, etwas konkret vorauszusagen, zu extrapolieren oder zu prophezeien. Sie wollen eine spezielle Politik erwirken, die eine jeweils erwünschte Zukunft entstehen lassen soll. Von Joseph Beuys ist die Ansicht überliefert, dass die Zukunft, die wir wollen, erfunden werden muss, um nicht eine Zukunft vorzufinden, die wir nicht wollen. Die Idee des Projektes ist es deshalb, an die von Beuys beschriebene Entwicklung anzuknüpfen und mittels der Formulierung eigener Szenarien für die Zeithorizonte 2030 und 2050 gewissermaßen eine „didaktische Zukunftsforschung“ zu betreiben, die aktivierend und handlungsleitend auf politische Entscheidungsträger einwirken soll. Der didaktische Anspruch besteht darin, in Form der entwickelten Szenarien aus der Gesamtheit der Annahmen und Erkenntnisse zu extrahieren, was in Zukunft für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Transportindustrie von allgemeiner und existenzieller Bedeutung sein wird und welche Maßnahmen dafür auf Seiten von Politik und Industrie erforderlich sein werden. Das Projekt will also nicht lediglich eine weitere Zukunftsstudie zu der ohnehin schon großen Ansammlung aktueller Prognosen hinzufügen. Basierend auf der erarbeiteten Gesamtschau aktueller Zukunftsforschung zum europäischen Transport- und Verkehrswesen sollen vielmehr eine Reihe innovativer Querschnittsszenarien für 2030 und 2050 als politische Handlungsempfehlungen entwickelt werden, die einerseits normativ-herausfordernd und andererseits glaubhaft und nachvollziehbar sind. Der Zeithorizont bis 2030 wird dabei inhaltlich den Fokus auf die Kulmination gegenwärtiger Herausforderungen legen, wobei der Zeithorizont von 2030-2050 den bestmöglichen Umgang mit diesen Herausforderungen zu einem prosperierenden 2050 thematisiert. Generell steht dabei weniger der segmentspezifische Blick im Vordergrund, sondern das Aufzeigen segmentübergreifender Kriterien für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Charakteristisch für diese resultierenden Szenarien werden somit ein hoher Abstraktionsgrad sowie ihre langfristige, strategisch-politische Orientierung sein.

Methodisch integriert das Projekt vordergründig retrospektive Zukunftsbewertungen vergangener Zukunftsstudien (Kapitel 3) mit vergleichenden synoptischen Gegenüberstellungen (Kapitel 4) und der Einbeziehung möglicher Wildcards, die durch mehrere Expertenworkshops und Interviews erarbeitet werden. Insbesondere soll aber eine „General Morphological Analysis“ (Kapitel 5) prozessbegleitend eine Vielzahl relevanter Parameter aus der Fülle bereits vorhandener Szenarien herausfiltern und evaluieren, um daraus computergestützt mögliche alternative und widerspruchsfreie Szenarien errechnen und ableiten zu können. In seinem berühmten Buch „The art of the long view" erläutert Peter Schwartz (1991), dass alle Szenario-Methoden schlussendlich hinsichtlich des Kriteriums beurteilt werden müssten, ob sie Raum für kreative und innovative Dialoge böten. Das Methodenspektrum soll daher dazu beitragen, ein adaptives Umfeld für die Entwicklung aktivierender und integrativer Szenarien entstehen zu lassen und zudem Räume bereithalten, um externe Ansichten in die Szenario-Entwicklung miteinzubeziehen. So werden unsere Zwischenergebnisse in Ideenworkshops, Strategiegesprächen, Brainstormings, Online-Surveys und auf Tagungen mit dem wissenschaftlichen Beirat und mit Experten aus Verkehrsindustrie, Politik und (Zukunfts-)Forschung diskutiert, um dadurch die entwickelten Kernkonzepte für eine nachhaltige und starke Transportindustrie ständig zu überprüfen und nachzubessern. Die Einbeziehung externer Expertise wird somit zu einem begleitenden Testfeld und zum inhaltlichen Impuls für die Entwicklung des Projekts und seiner Resultate.

3. Eine Geschichte der Zukunft? Bedrohliche Zukunftsszenarien für den europäischen Transportsektor

Wie bereits erwähnt, umfasst die hier vorgestellte Querschnittsanalyse aktueller Zukunftsstudien und Szenarien auch die Einbeziehung einer historischen Perspektive. So sollen Zusammenhänge zwischen vergangenen Zukunftsprognosen und erfolgten Anpassungsmaßnahmen im Transport- und Verkehrsbereich seit den 1960er-Jahren identifiziert, verglichen und bewertet werden. Durch diese retrospektive Sichtweise wird RACE2050 nicht nur einen Beitrag zur „Geschichte der Zukunft“ des europäischen Transportsektors leisten, sondern auch entscheidende Erkenntnisse und Empfehlungen für die Entwicklung möglichst einflussstarker neuer Zukunftsstudien im Transport- und Verkehrssektor erhalten. Es wird untersucht, ob sich Lehren aus der Vergangenheit für die Zukunft der europäischen Transportindustrie ziehen lassen.

In dieser Rückschau ist ein Aspekt von zentraler Bedeutung: Es besteht die Überzeugung, dass die europäische Transportbranche in der Vergangenheit aufgrund teilweise stark bedrohlicher Zukunftsstudien sehr veränderungsbereit und anpassungsfähig wurde, was den Sektor in der Langzeitbetrachtung besonders wettbewerbsfähig machte. Konkret gilt das Interesse deshalb dem Aufdecken früherer transportindustrieller Zukunftsdiskurse und der Analyse des Zusammenhangs mit zeitgleichen politischen und industriellen Anpassungsmaßnahmen, die den jeweilig prophezeiten Niedergang der Branche abwenden sollten. Durch eine quellenbasierte Analyse möglicher Kausalitäten zwischen Negativprognosen und Aktivierungspotenzialen soll beurteilt werden, wie die Zukunftsstudie RACE2050 am besten präsentiert werden kann sowie welche Reaktionen in Transportindustrie und Politik als realistisch erscheinen könnten. RACE2050 beleuchtet in diesem Zusammenhang drei Hochphasen bedrohlicher Zukunftsdiskurse und Reaktionskonjunkturen spezifischer europäischer Transportindustriesegmente, die im Folgenden kurz illustriert werden sollen.

3.1. Die „Amerikanische Bedrohung“

In den späten 1960er-Jahren sah sich Europa durch übergroße amerikanische Skaleneffekte bedroht, die langfristig wettbewerbsverzerrende Effekte auf die europäische Industrielandschaft vermuten ließen (Ministry of Aviation 1965, Servan-Schreiber 1968). Europa wurde daraufhin mit Prognosen konfrontiert, die u. a. dem Hochtechnologie- und Transportsektor für die Zukunft lediglich ein Schattendasein in totaler ökonomischer und technologischer Abhängigkeit von den USA voraussagten. Ein populärer Dreh- und Angelpunkt dieses düsteren Zukunftsdiskurses war das im Jahr 1968 erschiene Buch „Le Defi Americain“ (Die amerikanische Herausforderung) von Jean-Jacques Servan-Schreiber, welches schnell in 15 Sprachen übersetzt und zum millionenfachen Bestseller wurde. Das Vorwort für die deutsche Übersetzung schrieb Franz-Joseph Strauß, was den politischen Zeitgeist bezüglich aufkommender amerikakritischer Debatten bzw. eines wiedererstarkenden europäischen Selbstbewusstseins dokumentiert. Servan-Schreiber argumentierte, dass Europa an allen Fronten vollständig deklassiert erschien – angefangen bei Management-Techniken, technologischen Hilfsmitteln, Forschung und insbesondere im Bereich industrieller Skaleneffekte. Die Zukunftsstudien der späten 1960er-Jahre bestätigten, dass die europäische Transportindustrie – zum Beispiel Flugzeugbau oder Automobilindustrie – zu klein und zu fragmentiert war, um gegen die globale Konkurrenz aus den USA bestehen zu können. Es steht zu vermuten, dass das dystopische Buch von Servan-Schreiber zum Ende der 1960er-Jahre somit zu einem wichtigen Impuls in Richtung transnationaler Zusammenarbeit in Europa wurde. Es überzeugte französische und deutsche Politiker unter anderem dazu, das Airbus-Abkommen am 3. Mai 1969 zu unterzeichnen. Die wirtschaftlichen Bedrohungsszenarien dieser Zeit standen somit in engem Zusammenhang zur Entstehung einer neuen europäischen Transportlandschaft, die noch in heutiger Zeit spürbar und sichtbar ist.

3.2. Die „Japanische Bedrohung“

Während der 1980er Jahre hatte sich der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Bedrohungsszenarien von den USA auf Japan verlagert. Führende Experten warnten davor, dass Europa bis zum Jahr 2000 als japanische Kolonie geopolitisch versinken könnte, da Japan durch neue Schlüsseltechnologien und Produktionstechniken einen entscheidenden Vorsprung einnahm (Macrae 1962, Hedberg 1969, Scharnagl 1969, Kahn 1970). Europäische Autofirmen als auch die europäische Politik waren davon überzeugt, dass sich die gesamte Produktionskultur in Richtung einer Lean Production (Womack 1990) ändern müsse, um den japanischen (und später koreanischen) Wettbewerbsvorteil von qualitativ hochwertigeren, effizienteren und günstigeren Automobilen zu be- und überstehen. Die verspäteten und durchaus schmerzlichen Anpassungsstrategien an die japanische Produktionsweise sowie die Adaption japanischer Internationalisierungskompetenzen können jedoch als die Grundlage des heutigen Erfolges vieler europäischer Autobauer im Ausland verstanden werden. Darüber hinaus steht die Entwicklung des Europäischen Binnenmarktes ab 1992 in engem Zusammenhang mit der in den 1980er-Jahren gefürchteten japanischen Übermacht (Hager 1992, Lehmann 1992). Externe wirtschaftliche Bedrohungen dieser Zeitperiode, so wird die historische Zukunftsforschung innerhalb von RACE2050 herleiten, fungierten abermals als ein wesentlicher Impuls innereuropäischer Kooperation und Koordination.

3.3. Die „Chinesische Bedrohung“

Während Amerika in den 1960er-Jahren und Japan in den 1980er-Jahren als aktivierende Bedrohungen für Europa erschienen, übernahm in vielen jüngeren Langzeitstudien China diese Rolle, wie z. B. im White Paper der Europäischen Kommission von 2011. Laut dem White Paper hatten europäische Verkehrsunternehmen für eine lange Zeit gemeinsam mit wenigen, meist amerikanischen und japanischen Produzenten, einen komfortablen Vorsprung gegenüber dem Rest der Welt eingenommen und die Anteile an den Weltmärkten unter sich aufgeteilt. Dies wurde dank ihrer permanenten Überlegenheit in spezifischen Technologien und durch kontinuierliche Investitionen in die Infrastruktur ermöglicht.

Heute scheint diese Vormachtstellung europäischer Verkehrsunternehmen zunehmend abzunehmen, da Chinas Ausgaben für Forschung und Entwicklung seit mehreren Jahren zweistellig wachsen und in den kommenden Jahren erwartet wird, dass China noch weit vor den großen EU-Mitgliedstaaten die zweitgrößte Forschungs- und Entwicklungsmacht der Welt sein wird. Hinzu kommt, dass China wesentliche Impulse in den vielversprechendsten Bereichen der Spitzentechnologie setzt, während europäische Forschungsanstrengungen nicht ausreichend gebündelt werden. Obwohl China bereits der größte Automobilhersteller der Welt ist, gehören europäische Unternehmen immer noch zu den Weltmarktführern konventioneller Pkws, Lastwagen und Busse. China investiert jedoch stärker in die Entwicklung von alternativen Kraftstofflösungen und Elektroautos. In China erhalten Käufer von Elektro- oder Plug-in-Hybrid-Fahrzeugen wesentlich größere Anreize als in Europa. Ein anderer Bereich zunehmender Konkurrenz stellt die Entwicklung der Eisenbahnen dar. Während China etwa beim Bau von Hochgeschwindigkeitszügen in der Vergangenheit von europäischer, kanadischer oder japanischer Technologie abhängig war, entwickelt die Volksrepublik mittlerweile symbolträchtig eigene Hochgeschwindigkeitszüge. Das Gleiche gilt für die Busindustrie: Europäische Logistikunternehmen – derzeit unangefochtene Weltmarktführer – sind ebenso dabei Marktanteile zu verlieren. Seit Jahren hat man auf dem europäischen Kontinent von einer hervorragenden Infrastruktur, Freihandel und vergleichsweise geringer Bürokratie profitiert. Heute jedoch scheint die europäische Infrastruktur zunehmend überlastet. Die ökonomischen Kräfte scheinen sich allmählich aus dem Westen in andere Regionen zu verlagern und eine „Welt der zwei Geschwindigkeiten“ zu begründen. Als ein Resultat verfügt China heute etwa bereits über das größte Hochgeschwindigkeitszugnetz der Welt, eine florierende Automobilindustrie sowie eine im Aufbau begriffene, konkurrenzfähige Luftfahrtindustrie. Auch wenn Europa derzeit noch eher vom chinesischen Wirtschaftswachstum profitieren mag, könnte China aufgrund seiner zunehmenden wirtschaftlichen und technologischen Emanzipation als eine zukünftige Bedrohung angesehen werden. Wiederum thematisieren spätestens seit der Jahrtausendwende Zukunftsstudien diese Bedrohung und geben Empfehlungen zu Modernisierungsanstrengungen, stärkerer Weltmarktorientierung und verstärkter Innovationsfähigkeit, um eine bessere europäische Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.

Kurzum, die heutige Landschaft der europäischen Transportindustrie ist als ein Produkt kontinuierlicher Untergangsszenarien zu verstehen. Dennoch hatten die drei wirtschaftlich bedrohlichen Perioden hatten insgesamt eine positive Wirkung auf die europäische Transportbranche und das Transportsystem, da sie zum Lernen, zur Adaption sowie zur Überwindung von Herausforderungen drängten. Ziel des retrospektiven Arbeitsschritts ist es demnach, das Verständnis dafür zu verbessern, welche radikalen Industrie- und Politikreformen (bedrohliche) Zukunftsstudien – als Katalysatoren für die beschleunigte Bereitschaft zu Modernisierung und Veränderung – auslösen konnten. Aus dieser historischen Betrachtung heraus lässt sich die These formulieren, dass auch in Zukunft neue „Threat Scenarios“ benötigt werden, damit sich der Transportsektor auch in Zukunft verstärkt neuen Rahmenbedingungen anpasst. Diese neuen Bedrohungsszenarien müssen nicht erst erfunden werden, sie finden sich gegenwärtig bereits etwa im Klimawandel und dessen Umweltveränderungen, aber auch in Form starker innereuropäischer Spannungen wieder. Die damit einhergehenden gesellschaftlichen Auswirkungen betreffen insbesondere den Bereich Verkehr und Mobilität und stellen neue Herausforderungen dar. Diese gilt es angemessen zu identifizieren, zu adressieren und – wie in der Geschichte des europäischen Transportsektors meist überwiegend geschehen – letztlich erfolgreich zu überwinden.

4. Synopse von Zukunftsstudien des Transportsektors

RACE2050 wird in seiner Projektlaufzeit eine Vielzahl von aktuellen Zukunftsstudien und Szenarien untersuchen, die Aussagen über die Zukunft der europäischen Transportindustrie treffen. Das unübersichtliche Nebeneinander und die große Anzahl dieser untereinander meist isolierten Zukunftsstudien sollen mithilfe eines „Synopsis Tools“ gesammelt, systematisiert und segmentspezifisch veranschaulicht werden. Diese Synopse dient als ein interaktives Informationssystem für webbasiertes Lernen und stellt ein wesentliches und nachhaltiges Resultat des Projekts dar, das als eine informative und nützliche Plattform für Interessenten und Entscheidungsträger aus dem Transportsektor konzipiert wird. Über die eigentliche Projektdauer hinaus soll diese Szenario-Plattform einen lang anhaltenden Nutzen generieren und könnte zu einer der führenden europäischen Szenario-Plattformen reifen.

Ausgehend von einem festen Datensatz auf Excelbasis können sich Nutzer mithilfe von Kreis- und Tabellenvisualisierungen auf einer Online-Plattform einen individuellen Überblick über die aktuellen Zukunftsstudien für die europäische Transportindustrie zusammenstellen. Die Synopse soll die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Zukunftsstudien mit besonderem Schwerpunkt auf die identifizierten Stärken und Schwächen der europäischen Transportindustrie in ihren vielfältigen Branchen und nationalen Eigenheiten visualisieren. Zunächst ca. 100 eingespeiste Szenarien aus zwölf Verkehrssegmenten, Zeitbezügen bis 2050 und unterschiedlichen regionalen Bezügen sollen einzeln oder kombiniert dargestellt und animiert werden. Das „Synopsis Tool“ soll im Wikipediastil um neue Szenarien erweiterbar sein, um die Plattform weiter wachsen lassen zu können. Ziel ist es, durch eine Zusammenschau die wesentlichen Erfolgsfaktoren für die europäische Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrs- und Transportsektors sichtbar zu machen.

Abb. 1: Visualisierungskonzept „Synopsis Tool” mit 7 Parametern (eigene Darstellung)

Jede von RACE2050 analysierte Zukunftsstudie wird auf 15 Wettbewerbsparameter hin untersucht und jeder Parameter wird individuell auf einer Einflussskala bewertet. Die Verortung und Visualisierung der Studien hinsichtlich der Stärke ihrer erwähnten Parameter schlägt sich dann in einem Radar-Diagramm als ein szenariospezifisches Netz nieder (Abb. 2 und 3). Diese Netze lassen sich übereinanderlegen und damit grafisch ansprechend, originell und plausibel hinsichtlich der Häufigkeit und Stärke der Einflussfaktoren vergleichen. Die Auswahl der 15 Parameter für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Transportindustrie basiert im Wesentlichen auf den projektinternen Analysen gegenwärtiger und historischer Zukunftsstudien (substruction) sowie den Parametern des World Economic Forum (2012).

Abb. 2: Visualisierungskonzept RADAR „Synopsis Tool" mit 7 Parametern (eigene Darstellung)

Abb. 3: Visualisierungskonzept RADAR „Synopsis Tool” (eigene Darstellung)

Bei Auswahl mehrerer Szenarien entstehen freie und sich überlagernde Flächen. Somit werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Beurteilung der Stärke der beeinflussenden Parameter für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der Transportindustrie aufgezeigt. Die in der zentralen Datenbank eingespeisten Zukunftsstudien lassen sich nach vielfältigen Kategorien filtern bzw. einzeln ab- oder zuschalten, um so individuellen Nutzerinteressen entsprechen zu können.

Abb. 4: Visualisierungskonzept Stärken und Schwächen „Synopsis Tool” (eigene Darstellung)

Darüber hinaus wird das „Synopsis Tool“ weitere Visualisierungen umfassen, wie beispielsweise eine Verortung der qualitativ aus den vorhandenen Studien erhobenen Stärken und Schwächen (siehe Abb. 4).

Den Abschluss bilden 12 „VESTER-Diagramme“, die als eine kybernetische Einfluss-Matrix für jeweils eines der untersuchten 12 Transportindustriesegmente die Interdependenzen zwischen Einflussgrößen bestimmen und visualisieren.

Abb. 5: Visualisierungskonzept VESTER-Diagramm (zur Verfügung gestellt von Tom Ritchey, RCAB)

5. Allgemeine Morphologische Analyse (GMA)

RACE2050 nutzt für die gesamte Projektdauer die computergestützte „Allgemeine Morphologische Analyse“ (General Morphological Analysis, GMA) als Methode zur Integration und Bewertung der vielen Parameter, die aus den Zukunftsstudien und der laufenden Expertise extrahiert und entwickelt werden. GMA ermöglicht die Zuordnung jeden Faktors zu einer Reihe von relevanten Werten oder Bedingungen. Dabei wird ein morphologisches Feld durch die Gegenüberstellung in einer Matrix ausgebildet. Der Mehrwert des GMA-Prozesses besteht darin, die Gesamtmenge der (formal) möglichen Kombinationen innerhalb des gesamten Problembereichs zu einem kleineren Satz von intern konsistenten Kombinationen zu vereinfachen. Dieser Schritt wird als Cross-consistency assessment (CCA) bezeichnet. Durch die CCA-Reduktion erhält man eine überschaubarere Anzahl von widerspruchsfreien Kombinationen, quasi möglichen „Zukünften“ (Ayres 1969, Zwicky 1969). Wesentlich für die Methode ist die Möglichkeit, Parameter, Annahmen und die dazugehörigen Fragen klar zu definieren. Schlecht definierte Parameter werden sofort identifiziert, sobald Querverweise für die interne Konsistenz bewertet werden. GMA wurde in Dutzenden von Projekten während der letzten 30 Jahre dazu verwendet, langfristige Szenariomodellierungen erfolgreich zu entwickeln. Dieses etablierte Verfahren der Zukunftsforschung wurde international, bspw. in den Zeitschriften „Foresight“, „World Futures Review“, „Technological Forecasting“ und dem „UN Millennium Project“, als ein solides und kreatives Verfahren besprochen (Ritchey 2011).

Abb. 6: Beispiel einer GMA-Matrix (zur Verfügung gestellt von Tom Ritchey, RCAB)

Die Synopse und die GMA tragen gemeinsam zur Entwicklung zweier integrativer Szenarien für 2030 und 2050 bei. Die Szenarien funktionieren nicht als bloße Zukunftsbilder, sondern vermitteln in unserem Verständnis einer „didaktischen Zukunftsforschung“ eine klare Botschaft zu notwendigem Wandel in Industrie, Politik und der Gesellschaft. Die Szenarien werden durch eine Gruppe von Wildcards (niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit, aber High-Impact-Ereignisse) und insbesondere mithilfe von Workshops und Präsentationen hinsichtlich möglicher Auswirkungen und Reaktionen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auf ihre Robustheit getestet.

6. Zusammenfassung

Das Zukunftsforschungsprojekt RACE2050 nimmt die im weltweiten Vergleich gegenwärtige Stärke der europäischen Transportindustrie (Fahrzeugbau als auch Serviceanbieter) zum Ausgangspunkt, um einerseits in historischer und anderseits in aktueller Betrachtung danach zu fragen, warum trotz der Abwanderung oder dem allmählichen Niedergang vieler anderer Industriezweige (Textilindustrie, Bergbau) ausgerechnet dieser Sektor heute in Europa so stark und weltweit führend aufgestellt ist. Das Forschungsprojekt will aufspüren, welche Faktoren und Rahmenbedingungen in mittel- und langfristiger Zukunft die Wettbewerbsfähigkeit dieses Sektors bestimmen werden, um einen nachhaltigen Wachstum befördern zu können“?. Dabei analysiert es in einem Teilschritt in historischer Perspektive die Evolution des europäischen Transportsektors, der (branchenspezifisch) stets eine Reihe von Untergangsszenarien gegenüberzustehen schienen. Mithilfe der historischen Analyse europäischer Zukunftsdiskurse und daran geknüpfter Anpassungskonjunkturen im transportindustriellen Bereich will RACE2050 erörtern, wie, wann und wo Szenarien auf Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik positiv oder negativ, stimulierend oder abschreckend gewirkt haben. Die handlungsleitende These des Forschungsprojektes besteht dabei darin, dass es paradoxerweise insbesondere düstere Prognosen oder gar Horrorszenarien waren, die seit den 1960er-Jahren entscheidend dazu beigetragen haben, dass Europas Verkehrs- und Transportindustrie heute so stark aufgestellt ist und versucht diese Erkenntnis auf die aktuelle Zukunftsarbeit anzuwenden. Das Hauptaugenmerk dieser Zukunftsarbeit liegt in der vergleichenden Analyse und Darstellung aktueller Zukunftsprognosen für die europäische Transportindustrie, um aus der Meta-Perspektive der gegenwärtigen Zukunftsauffassungen zwei handlungsleitende Szenarien für 2030 und 2050 zu entwickeln.

Mit der Entwicklung eigener Szenarien sollen Politikempfehlungen ausgesprochen werden, die einen innovativen Mehrwert aus der Lehre einer europäischen „Geschichte der Zukunft“ ziehen und mittels der daraus gewonnenen Erkenntnisse eine gewünschte Zukunft erreichbar machen.

Als ein weiteres wesentliches Resultat dieses Projekts werden zahlreiche aktuelle Zukunftsstudien in einer webbasierten Synopse öffentlich zugänglich und interaktiv vergleichbar gemacht werden. Diese spielerisch bedienbare und erweiterbare Szenario-Plattform soll Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik künftig als eine Diskussionsgrundlage für die Zukunftsgestaltung des europäischen Transportsektors dienen.

7. Literatur

Ayres, R. U. (1969). Morphological Analysis. Technological Forecasting and Long Range Planning. New York: McGraw-Hill.

Europäische Kommission (2011). White Paper. Roadmap to a Single European Transport Area – Towards a competitive and resource efficient transport system. Brüssel: Europäische Kommission.

Hager, W. (1992). EC 1992 and Japan. In T. L. E. Weinstein (Hrsg.). Europe, Japan and America in the 1990s (S. 17–37). Berlin: Springer.

Hedberg, H. (1969). Die japanische Herausforderung. Hamburg: Hoffmann und Campe.

Kahn, H. (1970). The Emerging Japanese Superstate: Challenge and Response. Englewood Cliffs: Prentice-Hall.

Lehmann, J.-P. (1992). France, Japan, Europe, and industrial competition: the automotive case. International Affairs, 68 (1), 37–53.

Macrae, N. (1962). Consider Japan. The Economist, 8. September 1962 (2), 913–917.

Ministry of Aviation (1965). Report of a Committee of Enquiry into the Aircraft Industry. Cmd. 2853. London: Ministry of Aviation.

Ritchey, T. (2011). Wicked Problems/Social Messes: Decision support Modelling with Morphological Analysis. Berlin: Springer.

Scharnagl, W. (1969). Die konzertierte Aggression. München: Ehrenwirth.

Schwartz, P. (1991). The Art of the Long View: Planning for the Future in an Uncertain World. New York: Doubleday Currency.

Servan-Schreiber, J.-J. (1968). The American Challenge. London: Hamish Hamilton.

World Economic Forum (2012). The Global Competitiveness Reort 2012–2013. Genf: Klaus Schwab.

Womack, J. P. (1990). The Machine That Changed the World: The Story of Lean Production. London: Simon&Schuster.

Zwicky, F. (1969). Discovery, Invention, Research - Through the Morphological Approach. Toronto: The Macmillan Company.

Prof. Dr. Hans-Liudger Dienel: M. A. 1989, Dipl.-Ing. 1990 (Technische Universität München), Ph. D. 1993 (Universität München), Professor für „Arbeitslehre Technik“ am Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre der TU Berlin, ehemaliger Direktor des Zentrums für Technik und Gesellschaft der TU Berlin, stellv. Vorsitzender der COST 340 „Towards an European Intermodal Transport Network: Lessons from History“ (2000–2005), Mitglied des Editorial Board der folgenden Zeitschriften: Journal of Transport History, Innovation. Die Europäische Zeitschrift für Sozialwissenschaften, Forum Qualitative Sozialforschung. Präsident der Internationalen Vereinigung für die Geschichte von Transport, Verkehr und Mobilität (wwwt2m.org), Mitglied im Beirat „Gesellschaft und Technik“ des Vereins Deutscher Ingenieure.

Technische Universität Berlin, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre, Fachwissenschaft Arbeitslehre/Technik, Marchstraße 23 10587 Berlin, +49 (0)30-31421406, E-Mail: hans-liudger.dienel@tu-berlin.de

Dr. Massimo Moraglio: Studium der Politikwissenschaften (M. A.) und Ph. D. in „Urban Planning History“ an der Universität Turin. Forschungsschwerpunkte bilden die Auseinandersetzung mit Mobilität hinsichtlich ihrer politischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen sowie die Untersuchung städtischer Infrastrukturen und Transporttechnologien in modernen urbanen Gesellschaften. Derzeit Senior Researcher an der Technischen Universität Berlin und Projektkoordinator des EU-FP7-Projekts „RACE2050“, das sich der Vergangenheit und der Zukunft des europäischen Verkehrssektors widmet.

Technische Universität Berlin, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre, Fachwissenschaft Arbeitslehre/Technik, Marchstraße 23 10587 Berlin, +49 (0)30-31429826, E-Mail: massimo.moraglio@tu-berlin.de

Robin Kellermann: Studium der Kulturwissenschaft und Historischen Urbanistik (M. A.) in Magdeburg und Berlin. Forschungsschwerpunkte bilden die Untersuchung urbaner Infrastrukturen in ihrer ikonischen Rolle als Agenten politischer Legitimation, städtischer Repräsentation und des Städtewettbewerbs sowie die Geschichte des Wartens und temporärer Immobilität im Verkehrsbereich. Doktorand und Mitarbeiter im EU-FP7-Projekt „RACE2050“, das sich der Vergangenheit und der Zukunft des europäischen Verkehrssektors widmet.

Technische Universität Berlin, Institut für Berufliche Bildung und Arbeitslehre, Fachwissenschaft Arbeitslehre/Technik, Marchstraße 23 10587 Berlin, +49 (0)30-31424373, E-Mail: robin.kellermann@tu-berlin.de

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