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Jahrgang 2014, Ausgabe 1/2014
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Die Rolle der technologischen Kurzsichtigkeit bei langfristigen Energieszenarien

Analyzing the impact of technological myopia on long-term energy scenarios

  1. Rainer Elsland Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI
  2. Christian Harter Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI
  3. Martin Wietschel Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI

Zusammenfassung

Um die Implikationen des technologischen Wandels auf die Energienachfrage zu analysieren, kommen häufig technologiebasierte Energiemodelle zum Einsatz, die eine hohe Granularität aufweisen. Aufgrund des kontinuierlichen technologischen Fortschritts wirkt sich jedoch die technologische Kurzsichtigkeit mit zunehmendem Projektionszeithorizont restriktiv aus. Dies stellt besonders bei langfristigen Szenarien (> 20 Jahre) eine große Herausforderung dar. Um die Auswirkung von Innovationen und ihre Verbreitung im Markt bei der Analyse von Energienachfrageszenarien zu berücksichtigen, wird in diesem Beitrag ein Konzept zur Quantifizierung des technologischen Fortschritts in ein technologiebasiertes Energienachfragemodell integriert, wodurch sich Rückschlüsse hinsichtlich der technologischen Kurzsichtigkeit ziehen lassen. Die Analyse zeigt, dass bei Technologien mit einer hohen Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts, kurzen Reinvestitionszyklen und einem hohen Adoptionspotenzial die Energienachfrage lediglich für kurz- und mittelfristige Horizonte (< 20 Jahre) technologiebasiert projektiert werden sollte.

Abstract

Technology-based energy modeling is a common approach for analyzing the implications of technological change on the development of energy demand, as they provide a high level of granularity. However, because of continuous technological progress, restrictions to the modeling horizon are set by myopic information about future technologies. Especially in the context of long-term scenarios (> 20 years) this short-sightedness is a tremendous challenge. To analyze the impact of innovation and their diffusion in the framework of energy scenarios, this study presents a concept to integrate the quantification of technological progress into an existing energy demand model. This enables the user to explicitly address technological myopia in energy demand scenarios. It is shown that technologies with a very high pace of technological progress, short reinvestment cycles and a high adoption potential should only be projected for the short- to mid-term horizon (< 20 years) on a technology basis.

Keywords

1. Einleitung

In Anbetracht des Klimawandels und der zunehmenden Verknappung fossiler Ressourcen ist die Transformation des Energiesystems in den Mittelpunkt des politischen, wissenschaftlichen und auch gesellschaftlichen Interesses gerückt. Obwohl in dieser Diskussion der Ausbau der Erneuerbaren Energien und – besonders in Deutschland – der Ausstieg aus der Kernenergie im Fokus stehen, findet ein zentraler Treiber für diesen Umgestaltungsprozess, die Steigerung der Energieeffizienz in den energienachfragenden Sektoren (z. B. Haushaltssektor), häufig lediglich untergeordnete Beachtung (OECD 2010). Um die Energienachfrage langfristig zu senken, benötigen die Entscheidungsträger in diesem Transformationsprozess quantitative Instrumente zur Entscheidungsunterstützung, um bspw. Aussagen über die Ausgestaltung von energiepolitischen Regularien treffen zu können. In diesem Zusammenhang kommt der Szenarienbildung eine besondere Bedeutung zu, die mögliche Entwicklungspfade der Energienachfrage in die Zukunft skizziert. Szenarien grenzen sich dahingehend von Prognosen ab, dass sie nicht darauf abzielen, die wahrscheinlichste Entwicklung vorherzusagen, sondern mögliche Entwicklungspfade für konsistente Annahmenbündel zu berechnen (Götze 1993).

Für die Quantifizierung von Energieszenarien kommen bei energiewirtschaftlichen Fragestellungen sogenannte Energiemodelle zum Einsatz. Aufgrund der Vielzahl an energiewirtschaftlichen Fragestellungen existieren verschiedene Ansätze zur Erstellung von Energiemodellen. Prinzipiell lassen sich Energiemodelle nach unterschiedlichen Merkmalen systematisieren wie bspw. nach sektoraler, regionaler oder zeitlicher Abdeckung, Grad der Endogenisierung oder analytischem Ansatz (van Beeck 1999). In der Regel erfolgt die Systematisierung anhand des analytischen Ansatzes: Top-down vs. Bottom-up (Koch et al. 2003, van Beeck 1999). Während bei der eher ingenieurwissenschaftlich orientierten Bottom-up-Methodik Technologien explizit anhand ihrer spezifischen techno-ökonomischen Charakteristika modelliert werden und entsprechend detailliert auch die Berechnung der Energienachfrage erfolgt, werden bei der vorwiegend ökonomisch orientierten Top-down-Methodik die Implikationen des technologischen Wandels auf die Energienachfrage auf einem höheren Aggregationsniveau abgebildet. Chronologisch betrachtet war die Motivation für die Entwicklung der Bottom-up-Methodik die signifikant zu hoch berechnete Energienachfrage anhand der Top-down-Methodik in einer Vielzahl an Studien in den 1970er Jahren, aufgrund ihrer Beschränktheit den strukturellen, technologischen sowie verhaltensbedingten Wandel hinreichend detailliert abzubilden (Chateau & Lapillonne 1978, Lapillonne 1978).

Da es sich bei energiewirtschaftlichen Fragestellungen zur Umgestaltung des Energiesystems um einen Prozess von mehreren Jahrzehnten handelt, beträgt der Projektionshorizont von Energieszenarien mittlerweile häufig 20–40 Jahre; Beispiele hierfür sind die „Energieszenarien für ein Energiekonzept der deutschen Bundesregierung“ (Prognos et al. 2010) oder die „EU Energy Roadmap 2050“ (European Commission 2011), die das Pendant auf europäischer Ebene darstellt. Bei diesen langfristigen Zeithorizonten (> 20 Jahre) ist mit grundlegenden technologischen Strukturveränderungen nicht nur zu rechnen, vielmehr sind diese sogar notwendig, um ehrgeizige energiepolitische Zielvorgaben zu erreichen (Sohn 2007, Hourcade et al. 2006).

Trotz der prinzipiell besseren Eignung der Bottom-up-Methodik im Hinblick auf die Anforderungen an langfristige Energieszenarien ist die Anwendung dieser Modellierungsmethodik jedoch aufgrund der – durch den technologischen Fortschritt hervorgerufenen – technologischen Kurzsichtigkeit limitiert. Dieser Umstand ist auf das Phänomen des kontinuierlich voranschreitenden technologischen Wandels zurückzuführen (Grupp 1997). Aus erkenntnistheoretischer Sicht führt der kontinuierliche Fortschritt dazu, dass es zunehmend schwieriger wird, Aussagen über die physikalische Beschaffenheit und über techno-ökonomische Kennwerte von zukünftig eingesetzten Technologien zu treffen. Diese sogenannte „technologische Kurzsichtigkeit“ stellt speziell für die Modellierung der energienachfragenden Sektoren eine zentrale Einschränkung dar. Sie führt nämlich dazu, dass die technologische Erklärbarkeit der Energienachfrage speziell im Falle kurzer Reinvestitionszyklen (< 10 Jahre) sowie einer hohen Adoptionsrate von Innovationen wie bspw. bei Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in den privaten Haushalten bei langfristigen Energieszenarien nur noch sehr begrenzt oder überhaupt nicht mehr gegeben ist.

Auf diese Limitation der Bottom-up-Methodik wurde in der Literatur bereits häufig hingewiesen, jedoch ohne konkrete Ansätze zur methodischen Weiterentwicklung zu diskutieren (Hourcade et al. 2006, Jebaraj & Iniyan 2006, Mundaca et al. 2010, Worrell et al. 2004). Da die Bottom-up-Methodik – aufgrund ihrer relativen Vorteilhaftigkeit – heute i. d. R. für energiewirtschaftliche Langfristprojektionen zum Einsatz kommt, besteht ein hoher Bedarf an wissenschaftlichem Diskurs über die Limitationen dieser Methode, den langfristigen technologischen Wandel abzubilden, und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Interpretation von Szenario-Ergebnissen.

Die Zielsetzung dieses Beitrages ist es, anhand eines mit der Bottom-up-Methode berechneten Energieszenarios für den deutschen Haushaltssektor bis 2050 die Auswirkungen der technologischen Kurzsichtigkeit auf die Interpretation und Aussagefähigkeit von Szenario-Ergebnissen zu diskutieren und die Anwendung der Bottom-up-Methode für langfristige Projektionshorizonte zu hinterfragen. Als Ausgangslage wird hierzu der strukturelle Aufbau des Energienachfragemodells sowie die Modellierung von Innovationen und Diffusion erläutert (Kapitel 2). Daraufhin wird das Konzept zur Quantifizierung des technologischen Fortschritts mittels Innovationsindikatoren diskutiert (Kapitel 3). Um die technologische Kurzsichtigkeit zu quantifizieren, erfolgt im Anschluss eine Integration des Konzepts zur Quantifizierung des technologischen Fortschritts in das Energienachfragemodell (Kapitel 4). Im Rahmen einer Fallstudie für den deutschen Haushaltssektor bis 2050 wird das Konzept angewandt (Kapitel 5) sowie abschließend kritisch diskutiert und wesentliche Erkenntnisse aufgezeigt (Kapitel 6).

2. Aufbau des Bottom-up-Energienachfragemodells

2.1. Struktur und Parameter

Das angewandte Bottom-up-Energienachfragemodell für den deutschen Haushaltssektor – namens FORECAST-Residential – basiert auf der Simulationsmethodik, da es i. d. R. für explorative Untersuchungen zur Anwendung kommt, um die Implikationen von energie- und klimapolitischen Maßnahmen zu analysieren (Elsland et al. 2013a, Elsland et al. 2013b, Elsland et al. 2013c). Dabei erfolgt die Berechnung der Energienachfrage anhand von sozio-ökonomischen (z. B. Bevölkerung) und techno-ökonomischen Parametern (z. B. Betriebsstunden) (Tab. 1). Diese zwei Typen von Parametern ermöglichen es, die Energienachfrage basierend auf ihren wesentlichen Treibern abzubilden. Die Kalibrierungsgrundlage des Modells bilden empirische Daten im Zeitraum von 1991 bis 2008 (das Jahr 2008 stellt das Basisjahr der Szenarienberechnung dar und ist somit das letzte Jahr mit einer empirischen Datengrundlage).

Tab. 1: Techno-ökonomische und sozio-ökonomische Parameter

FORECAST-Residential setzt sich aus einem Modul für Haushaltsgeräte, Beleuchtung und Klimatisierung (Modul I) sowie einem weiteren Modul für Heizsysteme zusammen (Modul II). Aufgrund der hohen Datenverfügbarkeit zu techno-ökonomischen Parametern im Haushaltssektor ist FORECAST-Residential als Bestandsmodell konzipiert (engl.: Vintage Stock Model). Die technologische Struktur von Modul I setzt sich aus 48 Technologien (z. B. Plasmafernseher, LCD-Fernseher) zusammen, die wiederum nach Effizienzklassen (z. B. A++, A+) differenziert werden. Entsprechend sind die Effizienzklassen zu interpretieren: als alternative Ausprägungen einer Technologie, die sich hinsichtlich ihres Energieverbrauchs und somit auch in ihrer technologischen Ausgestaltung unterscheiden. Aus der Perspektive der Entscheidungsträger handelt es sich bei den Effizienzklassen um Substitutionsalternativen, die dieselbe Energiedienstleistung zur Verfügung stellen. Das Modul II basiert auf einem bedarfsorientierten Modellierungsansatz. Das bedeutet, dass die Berechnung der Endenergienachfrage für Raumwärme und Warmwasser auf Grundlage des Nutzenergiebedarfs erfolgt. Die Struktur der Heizsysteme ist entsprechend zu Modul I differenziert nach 32 Technologien (z. B. Niedertemperatur- oder Brennwertkessel, Wärmepumpe) und diese wiederum nach Effizienzklassen.

2.2. Modellierung von Innovation und Diffusion

Der technologische Fortschritt und die daraus entstehenden Innovationen werden im Energienachfragemodell FORECAST-Residential auf der Ebene der Effizienzklassen abgebildet. Da es sich um ein Energienachfragemodell handelt, bedeutet dies, dass die Innovation darin besteht, dieselbe Energiedienstleistung zu einem niedrigeren spezifischen Energieverbrauch bereitzustellen. Da die langfristige technologische Entwicklung – bis zum Jahr 2050 – für keine heute bereits verfügbare Technologie bekannt ist, sind die zukünftigen Effizienzklassen als synthetische Innovationen zu interpretieren, die nicht durch eine explizite technologische Ausprägung determinierbar sind. Sämtliche Technologiealternativen des Energienachfragemodells stehen ab dem ersten Jahr der Energienachfrageprojektion für die Entscheidungsträger als Option zur Verfügung. Lediglich ihre Ausprägung – innovatorische Weiterentwicklung – unterscheidet sich über den Projektionshorizont. Grundsätzlich neue Technologien, die heute noch unbekannte Energiedienstleistungen zur Verfügung stellen und die einen neuen Nutzen bieten, können dabei aufgrund erkenntnistheoretischer Restriktionen hinsichtlich zukünftiger Ereignisse nicht berücksichtigt werden. Dies bedeutet, dass die Gesamtheit der Innovationen auf die Weiterentwicklung heute bereits bekannter Energiedienstleistungen eingegrenzt wird.

Innovationen werden im Energienachfragemodell abgebildet, indem ein diskretes Jahr festgelegt wird, ab welchem diese potenziell in den Markt eintreten oder aufgrund eines veralteten technologischen Entwicklungsstandes ausscheiden. Der tatsächliche Zeitpunkt des Markteintritts ist nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit dem Zeitpunkt, ab dem sich die Innovation im Markt verbreitet, da dies von den Präferenzen, Lebensstilen, dem Informationsstand und weiteren Eigenschaften der Entscheidungsträger abhängt. Die zentrale Eingangsgröße bei der Entscheidungsfindung sind die Zahlungsströme, die über die Nutzungsdauer einer Technologie (engl.: Total Cost of Ownership) anfallen: Investitionssumme sowie Auszahlungen für Energie und Wartung (Geißdörfer 2009). Als Berechnungsmethode kommt hierfür eine dynamische Kapitalwertrechnung und darauf aufbauend eine Annuitätenrechnung zum Einsatz, die einen monetären Vergleich verschiedener Investitionsalternativen ermöglicht (VDI 2009). Die Geschwindigkeit der Bestandsumwälzung ist durch die Dauer der Reinvestitionszyklen determiniert, die mit der Nutzungsdauer einer Technologie kongruent ist.

Neben monetären bestimmen auch nicht monetäre Einflussgrößen die Investitionsentscheidung (Jaccard & Dennis 2006). Um eine derartige Entscheidungslogik abzubilden, kommt ein multinominales Logit-Modell zur Anwendung (Tutz 2000). Dabei gehen die nicht monetären Entscheidungskriterien implizit in die Entscheidungslogik ein, indem sie über einen Modifikationsparameter abgebildet werden, der die Stärke der monetären Einflussgrößen gewichtet. Der Logit-Ansatz basiert auf der Annahme, dass Entscheidungsträger aus einer Vielzahl an Alternativen diejenige mit dem höchsten individuellen Nutzen auswählen und nicht diejenige mit den geringsten Auszahlungen (DeCanio & Laitner 1997). Entsprechend der Heterogenität der Entscheidungsträger liefert der Logit-Ansatz eine Verteilung von Marktanteilen als Ergebnis, bei der i. d. R. sämtliche Substitutionsalternativen einen Marktanteil erhalten. Durch die Ausgestaltung der Diffusion auf der Grundlage eines Logit-Ansatzes lässt sich die Charakteristik des technologischen Wandels als ein inkrementeller und mit Systemträgheit behafteter Prozess abbilden.

In Abhängigkeit der Annahmen über die Entwicklung der techno-ökonomischen Parameter, wie bspw. der Ausstattungsrate oder der Dauer der Reinvestitionszyklen, diffundieren von Jahr zu Jahr zunehmend neue Effizienzklassen respektive synthetische Innovationen in den Markt. Dadurch entsteht ein ansteigender Anteil an Energienachfrage, der nicht mehr auf der Grundlage des heutigen technologischen Entwicklungsstandes beschrieben werden kann. Bei der Berechnung der Energienachfrage wird dabei nicht zwischen den im Basisjahr bereits vorhandenen Effizienzklassen und der im Laufe der Projektion in den Markt diffundierenden Effizienzklassen differenziert.

3. Konzept zur Quantifizierung der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts mittels Innovationsindikatoren

3.1. Einführung und Anforderungen an den Innovationsindikator

Um den Grad der technologischen Kurzsichtigkeit bei der Interpretation der Energienachfrage zu analysieren, ist neben dem Markteintritt der Innovation und ihrer Diffusion (Kapitel 2.2) auch die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts zu quantifizieren. Hierzu ist in einem nächsten Schritt ein geeigneter Innovationsindikator (Kapitel 3.2) und ein geeignetes Messkonzept (Kapitel 3.3) abzuleiten.

Da der technologische Fortschritt keine Größe ist, die direkt gemessen werden kann, kommen dafür direkte und korrelative Indikatoren zum Einsatz, die zur Messung von innovatorischen Aktivitäten an verschiedenen Stellen des Innovationsprozesses ansetzen (Grupp 1997, Smith 2005). An einen geeigneten Indikator zur Quantifizierung der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts werden bei der Auswahl folgende Anforderungen gestellt:

  • Da der Innovationsprozess die gesamte Spannbreite von der Grundlagenforschung bis zu marktfähigen Produkten abdeckt, ist eine hohe Marktnähe des Indikators erforderlich, um eine diskrete Allokation zu den Technologien des Energienachfragemodells herzustellen.

  • Da die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts zwischen den verschiedenen Technologien eine hohe Heterogenität aufweist, ist eine technologiespezifische Erfassung erforderlich.

  • Die Datengrundlage für die Quantifizierung des technologischen Fortschritts muss in einem hinreichenden technologischen Detaillierungsgrad und in einer statistisch signifikanten Grundgesamtheit vorliegen.

3.2. Systematisierung methodischer Ansätze zur Bildung von Innovationsindikatoren

Innovationen besitzen ihren Ursprung im Wesentlichen in Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten (F&E) an Universitäten, privaten und öffentlichen Forschungsinstituten sowie in Unternehmen. Die Relevanz der verschiedenen Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen für die Entstehung von Innovationen und den damit einhergehenden technologischen Fortschritt ist je nach Forschungsbereich und wissenschaftlicher Ausrichtung stark unterschiedlich (Pavitt 2003, Schmoch 2004). Der Innovationsprozess besteht im Kern darin, dass die Ressourcen menschliche Arbeit und Kapital (Input) dazu verwendet werden, einen Output in Form von Erkenntnissen, Verbesserungen oder technologischen Entwicklungen zu erzeugen (Pavitt 2003).

Die alternativen Ansätze zur Indikatorenbildung lassen sich anhand ihrer Marktnähe voneinander abgrenzen (Abb. 1). Ansätze, die auf der Messung des Einsatzes von Input-Faktoren wie Personaleinsatz oder F&E-Investitionen aufbauen (Ressourcen-Indikatoren), beruhen auf der Annahme, dass zwischen diesen Input-Faktoren und dem technologischen Fortschritt grundsätzlich ein kausaler Zusammenhang besteht, da technologischer Fortschritt nicht ohne den Einsatz von Ressourcen entstehen kann (Grupp 1997). Wissenschaftliche Publikationen (bibliometrische Indikatoren) oder Patentanmeldungen (Patentindikatoren) können als Zwischenprodukte des Innovationsprozesses interpretiert werden, die gleichzeitig Input und Output für den Innovationsprozess darstellen (Moed et al. 2004). Bibliometrische Indikatoren und Patentindikatoren grenzen sich im Wesentlichen dahingehend voneinander ab, dass erstere einen stärkeren Bezug zur Grundlagenforschung erlauben, während letztere einen Indikator für die angewandte Forschung und experimentelle Entwicklung darstellen (Grupp 1997). Patentindikatoren liegt zudem die Annahme zugrunde, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen der Patentanmeldung bzw. -erteilung und Innovationen existiert, was bereits in einer Vielzahl an Studien gezeigt werden konnte (Acs et al. 2002, Schmoch et al. 1988). Eine direkte Methode ist das Abzählen von Innovationen, die nur dann angewandt werden kann, wenn es sich um eine nicht allzu große Stichprobe handelt (Acs et al. 2002). Infolgedessen ist diese letztgenannte Form zur Messung von Innovationen für die Zielsetzung dieses Beitrages nicht von Interesse, da eine statistisch signifikante Grundgesamtheit für eine technologische Analyse des Haushaltssektors erforderlich ist.

Abb. 1: Überblick über ausgewählte Indikatoren zur Messung von Innovationen (in Anlehnung an Grupp 1997)

Eine Gegenüberstellung von Ressourcen-, bibliometrischen und Patentindikatoren zeigt, dass Ressourcen-Indikatoren weder eine hohe Marktnähe aufweisen noch ohne Weiteres diskreten Technologien zugeordnet werden können und dass auch sehr häufig eine begrenzte Datenverfügbarkeit aufgrund der limitierten Zugänglichkeit von Unternehmensdaten gegeben ist. Bibliometrische Indikatoren weisen im Vergleich zu Patentindikatoren eine geringere Marktnähe auf, da sie i. d. R. eher im Bereich der Grundlagenforschung zur Anwendung kommen, und entsprechend ist auch eine direkte Allokation zu diskreten Technologien häufig nicht unmittelbar herstellbar. Auch bei Patenten stellt diese Allokation eine Herausforderung dar, da ein hoher technologischer Sachverstand für eine dezidierte Zuweisung von Patenten zu Technologien im Energienachfragemodell erforderlich ist. Allerdings ist der beschriebene technische Reifegrad in der angewandten Forschung weiter fortgeschritten als in der Grundlagenforschung und entsprechend stellt dies einen Vorteil für die Allokation von Patenten zu einzelnen Technologien dar.

Für Bibliometrie-Indikatoren und ebenso für Patentindikatoren existieren kommerzielle und öffentlich zugängliche Datenbanken; für Patente sind dies bspw. nationale und internationale Patentämter (u. a. das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) oder das Europäische Patentamt (EPO)), die sämtliche Patentschriften enthalten. Somit liegen Daten in einer statistisch signifikanten Grundgesamtheit vor (DPMA 2012, EPO 2012). Der Vorteil von Patenten ist hierbei, dass das internationale Klassifizierungssystem (International Patent Classification (IPC)) bereits eine eindeutige hierarchische Strukturierung nach Sektionen, Klassen und Unterklassen bietet, die eine systematische Analyse erlaubt (DPMA 2012).

Obwohl der Patentindikator eine relative Vorteilhaftigkeit gegenüber den anderen Indikatoren aufweist, existieren auch bei diesem Innovationsindikator einige immanente Schwächen, die bei dessen Interpretation zu berücksichtigen sind. Beispielsweise sind nicht alle technischen Erfindungen (Inventionen) patentierbar (z. B. Software) und bei Weitem werden nicht alle patentierbaren Erfindungen tatsächlich zu einem Patent angemeldet (Acs et al. 2002, Schmoch et al. 1988). Des Weiteren bestehen Untersuchungen zufolge erhebliche Unterschiede bezüglich der Patentierneigung in verschiedenen Branchen (Cohen et al. 2000, Arundel & Kabla 1998). In sehr innovativen Branchen kann durch den verhältnismäßig trägen Prozess der Patenterteilung die Erfindung schon wieder überholt sein, bevor das Patent erteilt wird (Mansfield 1986). Entsprechend ist es in sehr innovativen Branchen, bspw. in der IT-Branche, üblich, dass für eine Vielzahl an inkrementellen Innovationen Patente angemeldet werden (de Rassenfosse 2010). Zudem werden Patente häufig ausschließlich aus strategischen Überlegungen angemeldet, um die wirtschaftliche Nutzung einer Erfindung durch den Wettbewerber zu verhindern (Kleinknecht et al. 2002, Frietsch 2007).

Vor diesem Hintergrund lässt sich schlussfolgern, dass eine Patentanmeldung bzw. -erteilung nicht gleichbedeutend ist mit einer Innovation und teilweise sogar eine signifikante Divergenz bestehen kann (Jochem et al. 2009). Der Zusammenhang zwischen Inventionen, Patenten und Innovationen ist in Abb. 2 dargestellt.

Abb. 2: Schematische Darstellung der Abgrenzung zwischen Inventionen, Patentanmeldungen und Innovationen (Grupp 1997)

Trotz der immanenten Schwächen sind Patentindikatoren im Vergleich zu anderen Innovationsindikatoren – vor dem Hintergrund der Anforderungen – am geeignetsten und werden somit für diese Untersuchung herangezogen. Die Tatsache, dass nicht alle technischen Erfindungen patentierbar sind (z. B. Software), ist vernachlässigbar für diese Untersuchung und die anderen Schwächen von Patentindikatoren sind im Wesentlichen im Rahmen der Auswahl eines Messkonzepts zu adressieren (Kapitel 3.3).

3.3. Messkonzept zur Quantifizierung der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts mittels Patentindikatoren

In Kapitel 3.2 wurde eruiert, dass es sich bei Patenten um den problemadäquatesten Innovationsindikator handelt. Darauf aufbauend wird in einem nächsten Schritt ein Messkonzept zur Quantifizierung des technologischen Fortschritts formuliert. Neben der allgemeinen Anforderung, dass das Messkonzept für alle Technologien des Energienachfragemodells anwendbar sein soll, ergeben sich die folgenden spezifischen Anforderungen:

  • Da für die Messung des technologischen Fortschritts Quervergleiche zwischen verschiedenen Technologiefeldern und Branchen erforderlich sind, sollte das Messkonzept eine möglichst geringe Sensitivität gegenüber verzerrenden patentrechtlichen und -strategischen Störgrößen aufweisen oder die Möglichkeit bieten, durch entsprechende Maßnahmen der Datenaufbereitung deren Einfluss zu minimieren.

  • Das Messkonzept muss einen kausalen Zusammenhang zur Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts abbilden, um valide Aussagen über die Entwicklung des technologischen Wissens ableiten zu können. Der Begriff „technologisches Wissen“ ist definiert als die Kenntnis über die konstruktive, physikalische und funktionale Ausgestaltung einer Technologie. Da sich diese drei Gestaltungselemente einer Technologie aufgrund des technologischen Fortschritts im zeitlichen Verlauf ändern, sinkt das technologische Wissen bzw. steigt die technologische Kurzsichtigkeit mit voranschreitendem Zeithorizont.

  • Da es sich bei der Analyse von Patenterteilungen um eine rein empirische Untersuchung handelt, ist das Messkonzept in einer Form auszugestalten, anhand derer prospektive Aussagen abgeleitet werden können.

3.3.1. Technology-Cycle-Time-Indikator

Als Patentindikator wird im Rahmen des Messkonzepts der Technology-Cycle-Time-Indikator (TCT-Indikator) herangezogen. Der TCT-Indikator basiert auf der Überlegung, dass in neuen Patentschriften durch Rückwärtszitate gekennzeichnet wird, auf welchen existierenden Patentschriften sie aufbauen, und entsprechend verdeutlicht, inwieweit die neue Entwicklung auf dem technischen Entwicklungsstand eines existierenden Patents beruht. Je jünger die zitierten Patente sind, desto jünger ist demnach der technische Entwicklungsstand, der weiterentwickelt wird. Hieraus ergibt sich ein direkter Zusammenhang zwischen dem Alter der zitierten Patente und dem technologischen Fortschritt: Die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts ist umso höher, je jünger die zitierten Patente sind und vice versa (Kayal 1997). Bei dem TCT-Indikator handelt es sich um ein etabliertes Messkonzept, das bereits im Rahmen mehrerer Studien angewandt wurde, wobei er sowohl hinsichtlich seiner zeitlichen Veränderung als auch in Quervergleichen zwischen verschiedenen Branchen oder Technologiefeldern analysiert wurde (Narin & Olivastro 1993, Bierly & Chakrabarti 1996, Kayal 1997, Park et al. 2006).

Der TCT-Indikator ist definiert als das arithmetische Mittel des Alters der Zitate, die ein neues Patent auf existierende Patente besitzt (Narin & Olivastro 1993, Park et al. 2006). Alternativ existieren auch Ansätze, das Alter der Zitate über den Median zu quantifizieren; diese Variante ist jedoch für die folgende Diskussion nicht von Relevanz (Narin & Olivastro 1993, Park et al. 2006). Das Alter eines Zitates ist in diesem Kontext die Zeitspanne zwischen dem Prioritätsdatum des referenzierten Patents und dem Prioritätsdatum des referenzierenden Patents. Das Prioritätsdatum ist der Zeitpunkt der erstmaligen Anmeldung eines Patents an einem Patentamt. Durch diese Konzeption nimmt der TCT-Indikator direkten Bezug auf die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts, welcher in vereinfachter Weise ebenfalls als eine Abfolge aufeinander aufbauender Inventionen beschrieben werden kann (Fabrizio 2009). Da die Zitation in der Patentschrift i. d. R. durch unabhängige Patentprüfer zur Beurteilung der Neuheit von Erfindungen erfolgt oder überprüft wird, ist ein hohes Maß an Neutralität der Patentverweise gewährleistet (Akers 2000).

Letztlich lässt sich schlussfolgern, dass der TCT-Indikator geeignet ist, die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts zu erfassen, indem er auf der Analyse von Verbindungen zwischen aufeinander aufbauenden Patenten beruht. Da die Höhe des Wertes der Technology-Cycle-Time (TCT) nicht von der absoluten Anzahl der zugrunde liegenden Patente abhängt, sondern von dem relativen Alter der Patente, auf die verwiesen wird, ist der TCT-Indikator geringfügig anfällig gegenüber dem Einfluss von Störgrößen wie strategischen Patentanmeldungen oder branchenspezifischen Patentierneigungen. Aufgrund der Tatsache, dass ausschließlich ein zeitlicher Bezug durch den TCT-Indikator quantifiziert wird, führt auch der Umstand, dass Patente lediglich partiell zu Innovationen werden, nur eingeschränkt zu einer Verfälschung des Ergebnisses, sofern eine geringe Volatilität des Verhältnisses von Patentanmeldungen zu Innovationen unterstellt wird und zudem die Höhe des TCT-Wertes von Innovationen und Patenten, die nicht in den Markt eintreten, lediglich geringfügig variiert.

3.3.2. Technologischer Knowledge Stock

In einem nächsten Schritt wird die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts in ein Maß überführt, das eine Quantifizierung der Abnahme des technologischen Wissensbestandes im Zeitverlauf erlaubt. Der Begriff „Wissensbestand“ ist in der wissenschaftlichen Diskussion eher geläufig unter dem englischen Begriff Knowledge Stock , welcher im Folgenden auch entsprechend verwendet wird (Zucker et al. 2007, Grubler & Nemet 2012, Neuhäusler & Frietsch 2013). Die Modellierung der Verbreitung oder Abnahme von Wissen ist ein gängiger Ansatz in der Literatur, um bspw. die Implikationen des Wissenstransfers in Form von sogenannten Knowledge Spill-Overs zwischen oder innerhalb von Unternehmen zu quantifizieren (Verspagen 1997, Fung & Chow 2002).

Um den Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts und dem technologischen Knowledge Stock herzustellen, wird folgende aufeinander aufbauende Argumentation zugrunde gelegt:

  1. Patente sind gewerbliche Schutzrechte und werden angemeldet bzw. erteilt, um geistiges Eigentum, welches technologisches Wissen kodifiziert, zu schützen (Grupp 1997). Daraus lässt sich in Bezug auf die Rückwärtszitation schlussfolgern, inwieweit älteres technologisches Wissen (ältere Patente) für die Schaffung von neuerem technologischen Wissen (neueren Patenten) herangezogen wird.

  2. Daraus leitet sich die Annahme ab, dass die Relevanz von bereits erteilten Patenten mit zunehmendem Alter für die Anmeldung neuerer Patente abnimmt, was sich auch in den Patentanmeldungen dadurch widerspiegelt, dass ältere Patente weitaus seltener zitiert werden als jüngere Patente (DPMA 2012). Folgt man nun der Überlegung, dass die Zitation eines Patents auf die Relevanz des darin inkorporierten technologischen Wissens hindeutet, spiegelt sich in der abnehmenden Zitierhäufigkeit die abnehmende Relevanz des technologischen Wissens wider.

  3. Da der TCT-Indikator als das arithmetische Mittel der Höhe der Rückwärtszitationen definiert ist, bedeutet dies, dass die TCT ein Maß dafür ist, inwieweit das referenzierte Wissen noch relevant für den technologischen Entwicklungsstand ist. Entsprechend dieser Argumentation interpretieren Park et al. (2006) den Rückgang der Zitation älterer Patente als eine Alters- bzw. Lebensdauerverteilung der Einheiten von technologischem Wissen.

  4. Basierend auf solch einer Lebensdauerverteilung kann die Abnahme des Knowledge Stocks im Zeitverlauf bestimmt werden. Während der Knowledge Stock im Basisjahr der Untersuchung (letztes Jahr, das auf einer empirischen Datengrundlage basiert) als 100 % angenommen wird, verringert sich sein prozentualer Anteil schrittweise, indem die einzelnen technologischen Wissenseinheiten das Ende ihrer Lebensdauer erreichen, somit obsolet werden und damit aus dem Knowledge Stock ausscheiden. Eine Analyse von DPMA-Patentanmeldungen legt nahe, die zeitliche Entwicklung des Knowledge Stocks über eine exponentielle Verfallsfunktion abzubilden, wie es in der Literatur häufig auch schon diskutiert wurde (Machlup 1962, Bosworth 1978, Popp 2005). Nave (2012) zeigt in seinen Untersuchungen, dass exponentielle Verfallsfunktionen bezüglich eines Bestandes entweder auf der Basis des arithmetischen Mittels oder des Medians der Lebensdauer der einzelnen zugrunde liegenden Elemente parametrisiert werden können. Entsprechend kann eine solche Verfallsfunktion auch genutzt werden, um auf der Grundlage des TCT-Indikators die Abnahme des Knowledge Stocks für einzelne Technologien zu quantifizieren.

In Anlehnung an die Untersuchungen von Schott (1978) und Park et al. (2006) lässt sich diese Verfallsfunktion als eine Abschreibungsrate des technologischen Knowledge Stocks interpretieren. Durch diesen Schritt kann die bisher ausschließlich empirische Betrachtung des TCT-Indikators dazu genutzt werden, prospektive Analysen durchzuführen. Entsprechend wird dabei die Annahme unterstellt, dass vergangene Trends der Patentanmeldung eine Indikation für die zukünftige Entwicklung geben.

Zur Veranschaulichung der evolutionären Entwicklung des technologischen Knowledge Stocks wird in Abb. 3 ein initialer Knowledge Stock dargestellt, der im Zeitverlauf abnimmt, indem fiktive „alte“ Wissenseinheiten durch „neue“ ersetzt werden. Anhand des gegenwärtigen technologischen Knowledge Stocks können naturgemäß sämtliche zum Stand der Technik gehörende Technologien beschrieben werden. Durch die kontinuierliche Entstehung neuer Ideen (neuen Wissens) werden neue Technologien erschaffen, die sich nicht mehr vollständig durch den initialen Knowledge Stock beschreiben lassen. Dies führt dazu, dass mit voranschreitendem Zeitverlauf das „neue“ Wissen zunehmend das „alte“ Wissen ersetzt und demzufolge die neuen Technologien die alten Technologien – unter Voraussetzung einer entsprechenden Fortschrittsrente – aus dem Markt verdrängen. Diese neuen Technologien definieren dann den neuen Stand der Technik. Dieses Fortschrittsverständnis geht auf Schumpeter (1961) zurück und wird als schöpferische Zerstörung bezeichnet.

Abb. 3: Schematische Darstellung der Abnahme eines initialen Knowledge Stocks

4. Konzept zur Quantifizierung der technologischen Kurzsichtigkeit

4.1. Ermittlung von technologiespezifischen Verfallsraten

Um den TCT-Indikator zur Messung des technologischen Fortschritts in Kombination mit einem Energienachfragemodell einzusetzen, wird zunächst eine Konkordanz zwischen den Technologien des Energienachfragemodells und den IPC-Patentklassen definiert. Die Herausforderung dabei ist, dass das internationale Klassifizierungssystem von Patenten IPC nicht nach spezifischen Technologien, sondern nach Sektionen, Klassen und Unterklassen strukturiert ist (DPMA 2012). Um eine technologiespezifische Verfallsfunktion abzuleiten, wird dabei wie folgt vorgegangen (Abb. 4): (I) Die Technologien werden zunächst nach ihren funktionstragenden Komponenten aufgeschlüsselt, basierend auf technischen Dokumenten, (II) um schließlich Schlagworte zur Eruierung von IPC-Patentklassen auf der Ebene von dreistelligen Klassen abzuleiten. (III) In einem nächsten Schritt wird die Höhe des TCT-Wertes für einzelne Jahre einer Referenzperiode für sämtliche Patenterteilungen zur Bestimmung der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts quantifiziert. (IV) Um schließlich die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts auf einer Technologieebene zu eruieren, wird der Durchschnitt über alle TCT-Werte ermittelt, die einer Technologie zugehören. Die abweichende Erfindungshöhe der Patente findet bei der Durchschnittsbildung keine Berücksichtigung. (V) In einem letzten Schritt werden die technologiespezifischen TCT-Werte in eine Knowledge-Stock-Verfallsrate überführt, die die Abschreibungsrate des technologischen Wissens für eine prospektive Analyse repräsentiert. Bei der Überführung der empirischen Untersuchung in eine prospektive Analyse wird implizit unterstellt, dass den patentierten Erfindungen technologische Pfadabhängigkeiten zugrunde liegen, die sich in dem IPC-Schema durch eine starke Ähnlichkeit auf einer hohen hierarchischen Ebene widerspiegeln, und dass dadurch von einer gewissen Kontinuität auszugehen ist. Nach dem Wissen der Autoren ist aus der Literatur keine ähnlich detaillierte Vorgehensweise zur Erstellung einer Konkordanz bekannt.

Abb. 4: Überblick über das Konzept zur Ermittlung technologiespezifischer Verfallsraten

Da die Quantifizierung der Verfallsraten differenziert nach Technologie erfolgt, jedoch die Technologien des Energienachfragemodells des Weiteren auf der Ebene von Effizienzklassen unterschieden werden, kommt für sämtliche Effizienzklassen eine identische Verfallsrate zur Anwendung. Diese Vorgehensweise lässt sich erstens durch den evolutionären Charakter des technologischen Fortschritts begründen, dass zukünftige Innovationen auf der Gesamtheit des bisherigen technologischen Knowledge Stocks aufbauen, und zweitens dadurch, dass die Effizienzklassen im Energienachfragemodell synthetische Innovationen abbilden, die nicht durch diskrete technologische Ausprägungen definiert sind, und somit keine technologiespezifische Differenzierung zwischen den Effizienzklassen möglich ist.

4.2. Integration von technologiespezifischen Verfallsraten in das Energienachfragemodell

Für eine Quantifizierung der technologischen Kurzsichtigkeit wird das Bottom-up-Modell (Kapitel 2.2) um die technologiespezifischen Verfallsraten (Kapitel 4.1) erweitert. In der vorangegangenen Diskussion wurde erläutert, dass die Verfallsraten auf der Ebene von einzelnen Technologien eruiert werden und für die einzelnen Effizienzklassen identische technologische Verfallsraten zur Anwendung kommen. Demzufolge ist eine Einbindung der technologiespezifischen Verfallsfunktionen auf dieser niedrigsten Hierarchieebene des Energienachfragemodells erforderlich.

Die Integration der Verfallsraten findet infolge einer Gewichtung der effizienzklassenspezifischen Energienachfrage statt, mit der eine Aufschlüsselung der Energienachfrage nach „basierend auf altem technologischen Wissen“ und „basierend auf neuem technologischen Wissen“ vorgenommen wird. Dies bedeutet, dass die Gewichtung nicht zu einer Modifikation der Energienachfrage führt, sondern eine weitere Differenzierung bei der Ausweisung und Interpretation der Energienachfrage ermöglicht. Demzufolge lässt sich der technologiespezifische Knowledge Stock durch eine kumulierte Betrachtung sämtlicher Effizienzklassen einer Technologie ermitteln. Durch die Gewichtung der Energienachfrage auf der Ebene einzelner Effizienzklassen wirkt sich die Abbildung des evolutionären Charakters des technologischen Wandels durch das Energienachfragemodell somit auch unmittelbar auf die Quantifizierung des technologiespezifischen Knowledge Stocks aus. Der kumulierte Knowledge Stock auf der Ebene einer Technologie sinkt demzufolge dadurch, dass in regelmäßigen Abständen neue Effizienzklassen bzw. synthetische Innovationen in den Markt eintreten, deren Knowledge Stock systematisch geringer ist als der vorheriger Effizienzklassen.

Die Bestimmung des Knowledge Stocks einer Effizienzklasse erfolgt, indem die Höhe des Stocks im Markteintrittsjahr eingefroren und bis zum Ausscheiden dieser Effizienzklasse aus dem Markt beibehalten wird. Somit wird für alle Effizienzklassen, die heute bereits im Markt verfügbar sind, ein Knowledge Stock von 100 % angenommen, da davon ausgegangen wird, dass der derzeitige technologische Entwicklungsstand aus der Perspektive des Patentanmelders vollkommen bekannt ist. Je weiter in der Zukunft eine Effizienzklasse in den Markt eintritt, umso mehr sinkt aufgrund der exponentiellen Verfallsfunktion die Höhe ihres Stocks. Wie stark der Knowledge Stock für die zukünftigen Effizienzklassen sinkt, ist dabei von der Höhe des technologiespezifischen TCT-Wertes abhängig. Eine exemplarische Darstellung der Verfallsrate des Knowledge Stocks einer fiktiven Technologie differenziert nach Eintrittszeitpunkten von zukünftigen Effizienzklassen ist in Abb. 5 dargestellt.

Abb. 5: Exemplarische Darstellung der Verfallsrate des Knowledge Stocks einer fiktiven Technologie differenziert nach Eintrittszeitpunkten von zukünftigen Effizienzklassen für den Zeitraum 2008–2050

5. Fallstudie – Langfristszenarien für den deutschen Haushaltssektor

5.1. Szenario-Definition und sozio-ökonomische Rahmenparameter

Die Anwendung der konzeptionellen Erweiterung des Energienachfragemodells erfolgt anhand von zwei explorativen Langfristszenarien für den deutschen Haushaltssektor bis 2050: dem Referenz-Szenario (RE-Szenario) und dem Energiewende-Szenario (EW-Szenario). Diese Szenarien unterscheiden sich hinsichtlich der ambitionierten Ausgestaltung von energiepolitischen Regularien. In beiden Szenarien wird angenommen, dass die heute bereits beschlossenen Gesetze und Richtlinien der Energiepolitik erfolgreich umgesetzt werden. Während im RE-Szenario zukünftig von einer moderaten Novellierung dieser Regularien ausgegangen wird, werden im EW-Szenario die zukünftigen energiepolitischen Maßnahmen sehr ambitioniert ausgestaltet. Da eine ambitioniertere Energiepolitik – bspw. durch ordnungsrechtliche Regularien, die das Inverkehrbringen von Mindesteffizienzstandards bei Produkten regeln – zu einem Impuls auf die innovatorische Tätigkeit von Unternehmen führt, wird im EW-Szenario von einer höheren Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts ausgegangen.

Hinsichtlich der sozio-ökonomischen Rahmenparameter wird angenommen, dass bereits seit Längerem erkennbare Trends auch in der Zukunft weiterhin bestehen werden, wie bspw. der demografische Wandel, eine Entwicklung zu mehr Singlehaushalten oder der langfristige Rückgang der Anzahl an Haushalten. Die quantitativen Zeitreihen hierfür werden aus der Studie „Energieszenarien für ein Energiekonzept der Bundesregierung“ übernommen (Prognos et al. 2010). Die sozio-ökonomischen Rahmenparameter sind für beide Szenarien identisch. Die Auswertung der Szenarien fokussiert auf den Energieträger Strom.

5.2. Techno-ökonomische Eingangsparameter

Als Kalibrierungsgrundlage für das Energienachfragemodell wurden Datenerhebungen von Marktforschungsinstituten, Studien zur Analyse der Stromnachfrage im Haushaltssektor und technologiespezifische Studien herangezogen. Hinsichtlich der prospektiven Entwicklung der techno-ökonomischen Parameter wird von einer identischen Entwicklung der Ausstattungsraten in beiden Szenarien ausgegangen, wobei im EW-Szenario zukünftige Effizienzklassen (Innovationen) früher und häufiger aufgrund der ambitionierteren energiepolitischen Ausgestaltung in den Markt kommen.

Für die Patentanalyse kommt die kommerziell verfügbare Patentdatenbank PATSTAT vom Europäischen Patentamt zur Anwendung (EPO 2012). Zur Festlegung der technologischen Rahmendaten wurde für jede Technologie innerhalb einer empirischen Referenzperiode (1990–2008) jährlich die TCT berechnet und daraus der arithmetische Mittelwert ermittelt, der den Erwartungswert darstellt, basierend auf einer Analyse von Patentanmeldungen respektive -erteilungen am DPMA (DPMA 2012). Der arithmetische Mittelwert entspricht der Höhe des TCT-Wertes im RE-Szenario, der für den gesamten Projektionshorizont konstant bleibt. Da im EW-Szenario von einer ambitionierteren energiepolitischen Ausgestaltung und somit von einer höheren Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts ausgegangen wird, kommt es zu einer Verkürzung der TCT. Für das EW-Szenario wird von einem TCT-Wert in der Höhe des unteren Whisker-Wertes ausgegangen (Abb. 6). Die Whisker einer Boxplot-Darstellung (begrenzt durch die oberen und unteren Endpunkte der eingezeichneten Spanne) sind definiert als das 1,5fache des Interquartilsabstandes zwischen drittem und erstem Quartil. Liegen keine Datenpunkte außerhalb der dadurch definierten Spanne, erfolgt eine Kürzung des Whiskers auf den beobachteten maximalen bzw. minimalen Wert. Die Abb. 6 zeigt, dass die IKT mit ca. sechs Jahren die mit Abstand geringste TCT aufweisen, gefolgt von der Beleuchtung mit ca. zehn Jahren, den großen Haushaltsgeräten mit ca. zwölf Jahren und den Heizsystemen mit ca. 14 Jahren.

Abb. 6: Überblick über das arithmetische Mittel, den Median und die Streuung der Technology-Cycle-Time der einzelnen Technologien

Bei der Ergebnisvalidierung der schlagwortbasierten Patentabfrage hat sich gezeigt, dass für das Eruieren von Patentklassen zur Erstellung einer Konkordanz ein detaillierter technischer Sachverstand über den Aufbau und die Funktionalität der Technologien erforderlich ist, speziell bei IKT. Da es sich bei der Validierung der Patentklassen um einen manuellen Vorgang handelt, lässt sich zwar eine Aussage über die Güte der Klassenabgrenzung treffen, nicht jedoch über die Trefferquote. Das heißt, wie viele der für die technologische Entwicklung relevanten Patentklassen kein Bestandteil der Konkordanz sind, lässt sich statistisch nicht erfassen. Der Fehler, der dadurch entsteht, wird jedoch als gering angenommen, da durch die Dekomposition der Technologien anhand technischer Dokumente, durch den iterativen Prozess des Ableitens von geeigneten Schlagworten und durch die darauf aufbauende manuelle Validierung der Konkordanzen eine intensive Qualitätssicherung zugrunde liegt.

5.3. Ergebnisse

Im RE-Szenario kommt es bis 2050 zu einem Rückgang der Stromnachfrage auf 137,1 TWh (1,7 % gegenüber 2008). Ein Vergleich mit dem EW-Szenario zeigt, dass in diesem die Stromnachfrage um weitere 36,9 TWh auf ein Niveau von 100,2 TWh (28,2 %) absinkt. Hierbei wird deutlich, dass die starke Diffusion von Wärmepumpen und der Anstieg der Klimatisierung dem Trend der rückläufigen Stromnachfrage entgegenwirken. Die Entwicklung der Stromnachfrage für beide Szenarien ist in Abb. 7 dargestellt.

Abb. 7: Ergebnisse des RE-Szenarios (links) und des EW-Szenarios (rechts) bezüglich der Stromnachfrage im deutschen Haushaltssektor von 2008 bis 2050

Wird die berechnete Stromnachfrage in einem nachgelagerten Schritt in Verbindung mit den technologiespezifischen Verfallsraten betrachtet, lässt sich erkennen, dass 2050 im RE-Szenario ca. 15,9 % und im EW-Szenario ca. 1,2 % der Stromnachfrage durch den heutigen technologischen Entwicklungsstand erklärt werden können (siehe Abb. 8). Das bedeutet, dass im RE-Szenario bereits im Jahr 2034 lediglich noch 50 % der Stromnachfrage technologisch erklärt werden können, während dies im EW-Szenario schon im Jahr 2029 der Fall ist. Die Differenz von fünf Jahren (2029 vs. 2034) zwischen den beiden Szenarien ist darauf zurückzuführen, dass im EW-Szenario zukünftige Effizienzklassen (Innovationen) früher und häufiger in den Markt eintreten. Dieses Ergebnis wird auch gestützt durch die Aussagen in der Literatur, die aufgrund der restriktiven Kenntnis über zukünftige technologische Entwicklungen eine Anwendung der Bottom-up-Methodik für Projektionshorizonte von maximal 15–25 Jahren angeben (Jebaraj & Iniyan 2006, Mundaca et al. 2010, Vethman et al. 2011).

Des Weiteren zeigt sich bei einer technologiespezifischen Analyse, dass die Höhe der technologischen Kurzsichtigkeit eine hohe Heterogenität aufweist. Während Technologien mit einem hohen technologischen Reifegrad wie bspw. Waschmaschinen (TCT beträgt 14,3 Jahre) noch bis zum Jahr 2045 partiell durch den heutigen technologischen Entwicklungsstand erklärt werden können, ist bspw. bei IKT (TCT beträgt 6,2 Jahre) bereits ab dem Jahr 2021 schon keine technologisch gestützte Berechnung der Stromnachfrage mehr möglich. Verstärkend wirken sich hierauf die unterschiedlichen Dauern der Reinvestitionszyklen aus: Während bspw. Weiße Ware eine durchschnittliche Lebensdauer von zwölf bis 17 Jahren besitzt, werden IKT bereits nach vier bis sechs Jahren ausgetauscht. Eine detaillierte Analyse zeigt, dass der Anteil der Stromnachfrage, der partiell auf altem technologischen Wissen basiert, stark variiert: während die Stromnachfrage von IKT bereits nach 13 Jahren ausschließlich auf heute noch unbekannten Technologien basiert, ist die Stromnachfrage von Heizsystemen partiell bis zum Ende des Projektionshorizonts in im Jahr 2050 auf der Grundlage von heutigem technologischen Wissen erklärbar. Da jedoch selbst bei Heizsystemen im Jahr 2050 nur noch ca. 10 % der Stromnachfrage auf dem heutigen technologischen Entwicklungsstand beruhen, lässt sich schlussfolgern, dass eine Berechnung der Stromnachfrage für den Haushaltssektor mittels der Bottom-up-Methodik bis 2050 basierend auf dem derzeitigen technologischen Wissensstand nur eingeschränkt möglich ist.

Abb. 8: Ergebnisse des RE-Szenarios (links) und des EW-Szenarios (rechts) bezüglich der Stromnachfrage im deutschen Haushaltssektor von 2008 bis 2050 ergänzt um die Information der technologischen Kurzsichtigkeit (dunkelgrau)

Ein Vergleich der Integrale über den Zeitraum 2008–2050 der explizit ausgewiesenen Technologien und der technologisch unscharfen Stromnachfrage aus Abb. 8 zeigt, dass der Anteil der technologischen Kurzsichtigkeit (dunkelgraue Fläche) bezogen auf die gesamte Stromnachfrage im RE-Szenario ca. 38 % und im EW-Szenario ca. 49 % beträgt. Welche Aussage lässt sich aus der Größe der dunkelgrauen Fläche ableiten? Technologiebasierte Energienachfragemodelle kommen i. d. R. zur Untersuchung der Auswirkungen energie- und klimapolitischer Maßnahmen, des technologischen Wandels oder sich ändernder sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen auf die Energienachfrage zum Einsatz. Die Analyse zeigt, dass speziell hinsichtlich der zwei erstgenannten Fragestellungen für mittel- bis langfristige Zeiträume nur sehr eingeschränkt bzw. überhaupt keine technologiespezifischen Aussagen möglich sind. Entsprechend lassen sich auch nachgelagerte technologiespezifische Aussagen über die Implikationen einzelner Technologien auf das Energiesystem wie bspw. über das Lastverlagerungspotenzial nur bedingt ableiten. Da es sich bei neu in den Markt diffundierenden Effizienzklassen um synthetische Innovationen handelt, die keine spezifische technologische Ausprägung repräsentieren, ist auch keine technologisch differenzierte Interpretation der dunkelgrauen Fläche möglich.

6. Schlussfolgerung und Ausblick

Dieser Artikel zielt darauf ab, einen Beitrag zur Diskussion über die Eignung der technologiebasierten Modellierung der Energienachfrage für langfristige Zeithorizonte zu leisten, indem die Implikationen von technologischer Kurzsichtigkeit auf die Interpretation von Szenario-Ergebnissen untersucht werden. Die zusätzliche Information über die technologische Kurzsichtigkeit stellt neben einem erhöhten Maß an Transparenz zudem ein quantitatives Gütekriterium des Szenarios dar. Entsprechend bietet diese Untersuchung eine Grundlage, die Eignung der Bottom-up-Methodik für langfristige Szenarien an sich zu hinterfragen, und stellt demzufolge einen wesentlichen Beitrag zur Diskussion der methodischen Limitationen der technologiebasierten energiewirtschaftlichen Modellierung dar.

Als Ausgangspunkt für die Untersuchung wurde ein Konzept zur Kopplung der energiewirtschaftlichen Methodik der Bottom-up-Modellierung mit der Methodik der Patentindikatorik entwickelt. Einen wesentlichen Schritt zur Kombination beider Forschungsfelder stellt die Überführung der retrospektiven Analyse von Patentdaten in prospektive technologiespezifische Verfallsraten – basierend auf Konkordanzen – dar. Dabei handelt es sich bei der Allokation von Patentklassen zu diskreten Technologien eines Energienachfragemodells für den Haushaltssektor um ein neues methodisches Konzept, das in der Literatur bisher noch nicht diskutiert wurde. Durch die Einbettung der technologiespezifischen Verfallsraten in das Bottom-up-Energienachfragemodell lassen sich neben der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts (TCT-Indikator) auch weitere Einflussgrößen für die technologische Unschärfe berücksichtigen, wie bspw. die Dauer von Reinvestitionszyklen oder die Höhe von Ausstattungsraten.

Aus den Ergebnissen der Fallstudie ist ersichtlich, dass sich bei sehr innovativen Technologien (z. B. IKT) bereits nach ca. zehn bis 15 Jahren die Stromnachfrage nicht mehr auf der Grundlage von heutigem technologischen Wissen erklären lässt. Dahingegen können Technologien, die heute bereits einen hohen Reifegrad besitzen (z. B. Weiße Ware), im Wesentlichen noch bis zu ca. 20–25 Jahre partiell über den heutigen technologischen Entwicklungsstand beschrieben werden. Da die Stromnachfrage heutzutage jedoch lediglich ca. 20 % der gesamten Endenergienachfrage im deutschen Haushaltssektor darstellt und die anderen 80 % auf Heizsystemen basieren – deren Reinvestitionszyklen ca. 20 Jahre betragen und die im Wesentlichen einen hohen technologischen Reifegrad aufweisen –, ist bei einer Betrachtung der gesamten Endenergienachfrage von einer geringeren Signifikanz der technologischen Kurzsichtigkeit auszugehen.

Die wesentliche Herausforderung bei der Interpretation der dunkelgrau markierten Fläche der Ergebnisdarstellung (Abb. 8) stellt die Klärung der Frage dar, inwieweit diese Fläche – die im Gegensatz zu einer herkömmlichen Bottom-up-Analyse den technologisch nicht erklärbaren Anteil der Stromnachfrage widerspiegelt – durchaus noch energiewirtschaftlich interpretiert werden kann. Eine mögliche Alternative wäre, die Ergebnisse für diesen mittel- bis langfristigen Zeithorizont nicht als eine Blackbox zu betrachten – da diese Energienachfrage schließlich immer noch auf techno-ökonomischen Parametern basiert –, sondern eher auf einer abstrakteren Ebene zu interpretieren. Dies kann bspw. erfolgen, indem die Stromnachfrage anhand von Energiedienstleistungen interpretiert wird und nicht mehr differenziert nach Technologien. Durch die Ausweisung als Energiedienstleistung würde deutlich werden, dass eine technologiespezifische Interpretation der Energienachfrage an dieser Stelle nicht zielführend ist. Ein Beispiel hierfür wäre, die mittel- bis langfristige Stromnachfrage durch Kühl- und Gefrierschränke, die in Abb. 8 lediglich einen Teil der grauen Fläche darstellt, als Stromnachfrage für Nahrungskonservierung auszuweisen. Eine andere Möglichkeit wäre, auch für die dunkelgrau markierte Fläche einen alternativen methodischen Ansatz zur Projektion der Energienachfrage anzuwenden. Dies wurde bereits im Rahmen zweier Beiträge von Elsland et al. untersucht, indem für diesen mittel- bis langfristigen Zeithorizont eine Top-down-Methode zur Projektion der Endenergienachfrage zum Einsatz kam (Elsland et al. 2013d, Elsland & Wietschel 2013). Dabei wurde die Kopplung der Patentindikatorik mit dem technologiebasierten Energienachfragemodell dazu verwendet, einen Übergangszeitpunkt zwischen der Bottom-up-Methodik und der Top-down-Methodik abzuleiten.

Im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Konzepts zeigt sich zudem, dass das Bottom-up-Energienachfragemodell lediglich Technologien abbildet, die heute bereits bekannte Energiedienstleistungen zur Verfügung stellen. Die Vernachlässigung noch unbekannter Energiedienstleistungen hat in der Vergangenheit bei Energieszenarien für den Haushaltssektor dazu geführt, dass die Stromnachfrage systematisch unterschätzt wurde, da diese neuen Technologien – speziell im Bereich der IKT – zu einem überproportional hohen Anstieg der Stromnachfrage geführt haben (Enerdata 2013). Auch die Einbeziehung dieser neuen Energiedienstleistungen im Rahmen von Energieszenarien wurde bereits von z. B. Hofer (2007) anhand einfacher methodischer Ansätze untersucht. Würde das Bottom-up-Energienachfragemodell um dieses Element erweitert werden, dann stellte sich in Bezug auf die Kopplung mit der Patentindikatorik jedoch die Frage, inwieweit der TCT von neuen Energiedienstleistungen überhaupt quantifizierbar ist, da dieser Typ von Technologien zum Zeitpunkt der Erstellung des Szenarios per Definition nicht bekannt ist. Daneben existiert in der Zukunftsforschung im Rahmen von langfristigen Zeithorizonten prinzipiell eine große Anzahl weiterer Herausforderungen wie bspw. eine Definition des Markteintrittszeitpunktes von Innovationen oder die wissenschaftlich belegbare Kenntnis über langfristige technologische Trajektorien, die aus erkenntnistheoretischen respektive logischen Gründen nicht lösbar sind.

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Rainer Elsland: M. Sc. (Dipl.-Wirt.-Ing.), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI

Breslauer Straße 48, 76139 Karlsruhe, Tel.: +49(0)721-6809438, E-Mail: rainer.elsland@isi.fraunhofer.de

Christian Harter: M. Sc. (Dipl.-Wirt.-Ing.), Wissenschaftliche Hilfskraft am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI

Breslauer Straße 48, 76139 Karlsruhe, Tel.: +49(0)721-6809168, E-Mail: christian.harter@isi.fraunhofer.de

Martin Wietschel: Prof. Dr. rer. pol., Stellvertretender Abteilungsleiter des Competence Centers Energietechnologien und Energiesysteme am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI

Breslauer Straße 48, 76139 Karlsruhe, Tel.: +49(0)721-6809254, E-Mail: martin.wietschel@isi.fraunhofer.de

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