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Jahrgang 1 (2012), Ausgabe 1
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Das Thema „Energie“ in der wissenschaftlichen Zukunftsforschung

Mögliche Beiträge einer geographischen Energieforschung

  1. Johannes Venjakob

Zusammenfassung

Der Umbau der durch den Einsatz fossiler Energieträger dominierten Energiesysteme steht weit oben auf der politischen Agenda. Angesichts des fortschreitenden Klimawandels, der Ressourcenverknappung und des ökonomischen Aufholens der Schwellen- und Entwicklungsländer wird diese Frage immer dringlicher. Zahlreiche politische, gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Herausforderungen sind mit diesem Umbau verbunden. Angesichts der Langlebigkeit der heute gebauten Infrastrukturen ergibt sich hieraus ein zentrales Feld für die wissenschaftliche Zukunftsforschung. Der Einsatz von Energieszenarios ist über Jahre erprobt und trotz zahlreicher methodischer und inhaltlicher Unsicherheiten bei der Erarbeitung der Szenariostudien bleiben sie unersetzlich – sofern sie wissenschaftliche Standards hinsichtlich der Wertneutralität und Überprüfbarkeit erfüllen. Auch in der geographischen Forschung findet sich das Thema „Energie“ wieder verstärkt auf der Agenda. Bereits vor dem Hintergrund der Ölpreiskrisen in den 1970er-Jahren setzten sich Geographinnen und Geographen mit Energiethemen auseinander – angesichts des anstehenden Umbaus der Energiesysteme wird auch wieder die Frage aktuell, inwiefern sich die Transformation des Energiesystems und die Raumstruktur gegenseitig beeinflussen. Dabei werden nicht nur inhaltliche Fragen aufgeworfen, vielmehr ist auch zu klären, wie sich das Thema „Energie“ in die etablierten geographischen Forschungsdisziplinen von der Klimageographie über die Wirtschafts- und Bevölkerungsgeographie bis hin zur Siedlungsgeographie eingliedern lässt. Die Ausführungen im vorliegenden Artikel gehen noch einen Schritt weiter und werfen die Frage auf, inwiefern sich durch die Verbindung geographischer Forschung und Energiethemen auch ein neues methodisches Experimentierfeld auftut. Konkret wird aufgezeigt, dass die Geographie verstärkt den Blick in die Zukunft wagen und sich von der Analyse rezenter Strukturen lösen sollte. Die Frage der zukünftigen Raumstrukturen angesichts des Umbaus der Energiesysteme ist von zentraler Bedeutung, unter Anwendung von Methoden der wissenschaftlichen Zukunftsforschung muss die Geographie hier antworten liefern.

Abstract

The conversion of energy systems dominated by fossil fuels has high relevance on the political agenda. With respect to the on-going climate change, resource scarcity and economic catching up of emerging and developing countries, this question becomes more and more urgent. Numerous political, social, economic and environmental challenges are associated with this transformation. Given the longevity of the infrastructure built today, this results in a central area for scientific future research. The use of energy scenarios has been tested over the years and despite numerous methodological and thematically uncertainties in the development of the scenario studies, they remain irreplaceable – if they meet academic standards of neutrality and verifiability. The issue of energy is also emerging on the agenda of geographical research again. Against the background of the oil price crises geographers already dealt with energy issues in the 1970s – given the upcoming renovation of energy systems, again the question has to be answered, in how far the transformation of the energy system and the spatial structure influence each other. Not only thematic questions are raised, rather, it is to clarify how the issue of energy can be incorporated into the established geographical research disciplines of geography. The statements in this article go one step further and tie up the question to what extent new methodological experiments can be developed by the combination of geographic research and energy issues. Specifically, it is shown that the geographical research should take a glance at future developments instead of only focusing on the analysis of recent structures. The question of future spatial structures in face of the transformation of energy systems is essential – by using scientific methods of future research, geographers should provide answers here.

Keywords

1. Einleitung

Der mittel- bis langfristige Umbau der bestehenden Energiesysteme in den Industrieländern stellt angesichts des rasant fortschreitenden Klimawandels, der Ressourcenverknappung und des wirtschaftlichen Aufholens der Entwicklungs- und Schwellenländer eine der zentralen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen dar. Dabei gilt es, ein stark auf fossile Rohstoffe setzendes System in Zukunft deutlich mehr auf nachhaltige, regenerative Energieträger auszurichten.

Die extrem langen Planungszeiträume und Investitionszyklen, die in diesem Bereich üblich sind, ebenso wie die großen Unsicherheiten und die Komplexität machen das Energiethema zum prädestinierten Untersuchungsgegenstand für die wissenschaftliche Zukunftsforschung. Ressourcenverfügbarkeit fossiler und regenerativer Energieträger, aber auch soziale, wirtschaftliche, technische und ökologische Aspekte spielen bei der Planung und Strategieentwicklung im Bereich der Energie eine Rolle und liefern damit Argumente für die Betrachtung im Rahmen von Szenarios. Szenarios, als eine der zentralen Methoden der wissenschaftlichen Zukunftsforschung, haben zum Ziel, ein Set möglicher, wahrscheinlicher oder wünschenswerter Zukunftsbilder zu entwerfen – basierend auf einem konsistenten und belastbarem Set von Annahmen und unter der Darstellung des Weges zu den aufgezeigten Zukunftsentwürfen (vgl. Kreibich 2008; Reibnitz 1987).

Gleichzeitig ist das Thema „Energie“ von besonderem Interesse für die geographische Forschung. Aufgrund ihres interdisziplinären Charakters ist diese in besonderer Weise in der Lage, die gegenseitigen Wechselbeziehungen zwischen Raumstruktur und Energiesystem zu beschreiben. Fragestellungen im Energiethema berühren Aspekte der Klimageographie, der Wirtschaftsgeographie, der politischen Geographie bis hin zu Gesichtspunkten der Geo- und Landschaftsökologie.

Die offene Frage ist, wie sich die geographische (Energie-)Forschung auch in den Entwurf von Zukunftsbildern einbringen kann. Die folgenden Ausführungen befassen sich dementsprechend damit, wie das Energiethema in der Zukunftsforschung und der Geographie behandelt wird und wie sich beide Bereiche zusammenführen lassen. [1]

2. Energie und Zukunftsforschung

2.1. Einsatzbereiche der Zukunftsforschung im Themenfeld „Energie“

Unternehmen aus dem Energiebereich können als einer der wesentlichen Vorreiter auf dem Gebiet der Integration von Szenarios in die Unternehmensstrategien angesehen werden. Erste Anwender waren die von den Ölkrisen der 1970er-Jahre betroffenen Branchen wie die Automobilindustrie oder eben die Mineralölwirtschaft. Ihre Investitionsentscheidungen wurden durch den Energiepreisschock stark beeinflusst (Smil 2003). Es wurden systematische Ansätze entwickelt, in denen Szenariotechniken zur Planungsgrundlage gemacht wurden, um darauf aufbauend langfristig abgesicherte Planungen für die Unternehmensprodukte und -systeme erarbeiten zu können (Reibnitz 1987, S. 13). Shell kann als Pionier in der Anwendung von Szenarios in der strategischen Planung von Energieunternehmen angesehen werden. Szenarios werden als eine Kunstform angesehen, die Strategie-Gespräche innerhalb des Unternehmens ermöglichen sollen und gleichzeitig dazu dienen, bestehende Gedankenmuster der Manager zu verändern (Kreibich 2008).

Es lassen sich verschiedene Einsatzbereiche von Energieszenarios identifizieren (Nielsen & Karlsson 2007). Neben der Strategieplanung in den Unternehmen werden Szenarios auch eingesetzt, um langfristige Vorhersagen für die Entwicklung der Energiemärkte an sich zu treffen. Dabei handelt es sich um prädiktive Ansätze, die auf detaillierten, tiefgehenden Computermodellen basieren. Sie veranschaulichen, wie sich das Energiesystem möglicherweise auf Basis der aktuellen sozialen, ökonomischen und technologischen Trends und Politiken weiterentwickelt. Sie werden in der Regel als Referenzszenarios verwendet, die dann alternativen Entwicklungspfaden gegenübergestellt werden.

Eine dritte Anwendung im Energiebereich findet sich in der Energieplanung und -beratung. Hierbei handelt es sich häufig um Analysen, die alternative Entwicklungspfade aufzeigen, um damit auf drohende Probleme wie den Klimawandel oder die Ressourcenknappheit zu reagieren. Diese Ansätze sind normativ und antizipatorisch. Ursache für das Aufkommen dieser Szenarios waren vor allem die fehlerhaften Energieprognosen der Energieunternehmen. Sie wiesen keine hinreichende Analyse der Entwicklung der Energienachfrage nach, stattdessen bauten sie auf die einfache Fortschreibung der aktuellen Trends. Die neu aufkommenden Szenarios lieferten ein breiteres Verständnis dafür, dass der Energieverbrauch nicht auf die herkömmliche Art mit den üblichen Wachstumsraten fortgesetzt und fortgeschrieben werden konnte. Sie halfen, den Fokus von einer Predict & Provide-Planung, die ausschließlich vorsorgeorientiert war, auf ein stärker nachfrageorientiertes Energiemanagement umzustellen. Damit gelang es auch, den Blick von fossilen Energieträgern und der Kernenergie zunehmend auf erneuerbare Energiequellen zu lenken.

2.2. Kontroverse um Unsicherheiten und den Mehrwert von Szenarios

Die Frage ist, ob die Planungen der Energieunternehmen durch den Einsatz von Methoden der Zukunftsforschung sicherer geworden sind. Nicht nur im Energiebereich sehen sich Zukunftsforscherinnen und Zukunftsforscher dem Vorwurf der Beliebigkeit ausgesetzt. Und ohne Zweifel gibt es – gerade im Bereich der Energiezukunft – zahlreiche Unwägbarkeiten, mit denen es bei der Erarbeitung von Zukunftsbildern umzugehen gilt. Unsicherheiten und Kontroversen sind dabei nicht zu vermeiden. Einige zentrale Diskussionspunkte werden im Folgenden dargestellt, um anschließend der Frage nach der Legitimität und dem Erkenntnisgewinn wissenschaftlicher Zukunftsforschung nachzugehen.

2.2.1. Thematische Unsicherheiten

Ein wesentlicher Grund für Unsicherheiten von Energieszenarios liegt in der Komplexität des Energiethemas selbst, wie die folgende Auflistung möglicher Unwägbarkeiten zeigt. Sie betreffen (Nielsen & Karlsson 2007):

  • die wirtschaftliche Entwicklung, sozialen Wandel und Veränderung der Lebensstile und daraus resultierende Auswirkungen auf die Energienachfrage und den Bedarf an Energiedienstleistungen,

  • die Verfügbarkeit von Energieträgern und damit verbundene Kosten (gilt für konventionelle und unkonventionelle fossile Energieressourcen ebenso wie für regenerativer Energiequellen und Kernenergie)

  • den technologischen Wandel und seine möglichen Auswirkungen auf Erzeugungskosten, Energieeffizienz und Optionen der Energiequellenauswahl,

  • Umweltauswirkungen und andere Risiken der Energieproduktion und des -verbrauchs, zum Beispiel auf die menschliche Gesundheit und den Klimawandel

  • die Entwicklung der Energiesicherheit und Energieunabhängigkeit einzelner Staaten und Regionen,

  • die Angleichung der Energienachfrage zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern und deren mögliche Folgen für Energiehandel, Energiepreise und die Umwelt.

Angesichts der hier aufgezeigten Determinanten wird deutlich, dass die Ableitung konsistenter Annahmen ausgesprochen komplex ist und mit ihrer Belastbarkeit der Wert der Szenarioergebnisse steht und fällt.

Auf die Frage nach dem Umgang mit dieser Vielschichtigkeit der Annahmen und den daraus resultierenden Unsicherheiten kann eine Antwort sein, sie auszublenden – sie im Annahmen-Set nicht zu berücksichtigen. Je mehr Unwägbarkeiten jedoch von der Untersuchung ausgeschlossen werden, desto weniger ist das Ergebnis der Analyse tragfähig und zur Ableitung solider Handlungsstrategien geeignet. Wird das Szenario andererseits mit externen Einflussmöglichkeiten überfrachtet, leidet auch hierunter das Untersuchungsergebnis. Es wird zu komplex, zu angreifbar und läuft Gefahr, von aktuellen Geschehnissen bereits bei der Erarbeitung überholt zu werden. Die Diskussion um die Energiezukunft steht im Spannungsfeld zwischen Befürwortern unterschiedlicher Technologiepfade und Lebensstil-Entwürfen, eng verbunden mit unterschiedlichen Auffassungen zu Ressourcenverfügbarkeit, Umweltauswirkungen und sozialer Akzeptanz. Es wird deutlich, dass Erwartungen und Visionen der Autorinnen und Autoren von Szenarios in erheblichem Maße mit der Qualität und der Aussage des Ergebnisses verbunden sind; und dieses gilt nicht nur im Falle bewusst antizipatorischer Szenarios.

2.2.2. Methodische Unsicherheiten

Subjektivität

Szenarios und Vorhersagen spiegeln häufig die Erwartungshaltung und Interessenlagen der Unternehmen, Organisationen oder Regierungen wider, die für die Szenariostudien verantwortlich sind. Es zeigt sich, dass in zahlreichen Fällen Modelle als Beratungswerkzeuge genutzt werden, um gewisse erhoffte Energiezukünfte zu legitimieren und entsprechende Strategien abzuleiten. Subjektive technologische und ökonomische Denkweisen fließen in den Modellapparat ein, die Ergebnisse werden jedoch als objektiv präsentiert. Nielsen und Karlsson zitieren Midttuns und Baumgartners Ausspruch zur Kombination von Modellen und Politik. Sie nennen diese „scientific negotiation of energy futures“ (Nielsen & Karlsson 2007). Demnach spielen Szenarios häufiger eine Rolle bei der Rechtfertigung, nicht jedoch bei der Entwicklung von politischen Entscheidungen.

Herleitung

Zudem fehlt Szenarios häufig die schlüssige und transparente Herleitung, die detaillierte Roadmap, die für die Einführung neuer Technologien notwendig wäre. Eine solche Roadmap sollte nicht nur technische und ökonomische Aspekte beinhalten, sondern auch Aussagen zu politischen Vorgängen und Veränderungen, Marktkräften und Konsumentenpräferenzen treffen. Sie sind letztendlich grundlegende Voraussetzung für einen umfangreichen Einsatz neuer Technologien. Von Seiten der Sozialwissenschaften wird darüber hinaus häufig gefordert, dass verstärkt Aspekte wie Akteursstrategien, soziale Netzwerke, politische Prozesse, Lernkurven, Lebensstile, Normen und soziale Faktoren bei der Erstellung der Szenarios Berücksichtigung finden. Methodische und thematische Unsicherheiten vermischen sich hier stark.

Studien zum Thema „Energie“ tendieren dazu, das Technische zu sehr in den Vordergrund zu stellen und es von den genannten sozialen Gesichtspunkten zu trennen. Diese Vorgehensweise negiert, dass Konsumenten sich nicht zwangsläufig immer für die kostengünstigste Lösung entscheiden (im Sinne des Homo oeconomicus) oder so, wie es ihnen durch Informationskampagnen empfohlen wird. Die Art, wie Menschen Energie konsumieren, ist immer auch stark beeinflusst von ihren sozialen Normen und ihrem kulturellen Umfeld.

Unvorhergesehene Ereignisse

Ein weiteres Element, das kontrovers diskutiert wird, ist der Einbezug überraschender Ereignisse (im Sinne von Störungen) in die Storyline bzw. die Roadmap des Szenarios. Gerade im Energiebereich hat die Vergangenheit gezeigt, dass große überraschende Ereignisse auftreten können, die einen umstürzenden Charakter haben und in der Lage sind, den Energiemarkt langfristig zu verändern. Die erste Ölkrise Anfang der 1970er-Jahre oder der Reaktorunfall von Tschernobyl sind Beispiele dieser Art. Es stellt sich die Frage, inwieweit derartige Ereignisse in Szenarios Berücksichtigung finden sollen bzw. überhaupt können. Inwieweit sind Ereignisse dieser Art erdenkbar und in ihren Folgen abwägbar? Der Super-GAU von Tschernobyl hat gezeigt, dass die Folgen, insbesondere die langfristigen, kaum abschätzbar sind und in starkem Maße von politischen Reaktionen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen abhängig sind. In Deutschland führte der Unfall dazu, dass die bereits bestehende Anti-Atomkraft-Bewegung starken Aufwind erfuhr und die Kernenergie für zwei Jahrzehnte im Abseits stand. Eine Intensivierung ihrer Nutzung wäre in der Gesellschaft nicht durchsetzbar gewesen. Gleichzeitig stellt das Ereignis eine Initialzündung für den Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energiequellen dar. Erst in jüngster Zeit begann sich vor dem Hintergrund klimapolitischer Debatten die starre Haltung gegenüber der Kernenergie zu lösen – bis die Ereignisse in Fukushima 2011 zumindest in Deutschland wiederum zu einer politischen Kehrtwende führten. Ganz anders die Situation im Nachbarland Frankreich: Eine breite gesellschaftliche Ablehnung wie in Deutschland hat es nach Tschernobyl nie gegeben. Auch mangels fossiler Alternativen wurde die Kernenergie auch nach 1986 massiv ausgebaut. Derart unterschiedliche Reaktionen auf ein einschneidendes Ereignis scheinen in Szenarios nicht darstellbar.

Auch Smil stellt zum Thema unvorhergesehener Ereignisse mit zynischem Unterton fest:

Neue Schwierigkeiten und neue Fehleinschätzungen liegen vor uns. Ein Ende naiver und (nicht nur im Rückblick) unglaublich kurzsichtiger oder gänzlich lächerlicher Vorhersagen ist nicht abzusehen. Im Gegenteil werden wir wiederholt geschockt sein von schlichtweg übersehenen Wendungen der Ereignisse. Extreme Zukunftsentwürfe sind leicht zu skizzieren und möglicherweise werden einige von ihnen auch eintreten. Bedeutend schwieriger ist es, die wahrscheinlicheren Realitäten einzuschätzen, die aus einer Mischung gut nachvollzogenen und fast unabwendbaren Kontinuitäten auf der einen und verblüffenden Unstetigkeiten und Überraschungen auf der anderen Seite entstehen. (Smil 2000, S. 262)

Selbst in den sogenannten wahrscheinlicheren Zukunftsentwürfen scheinen genug Unsicherheiten verborgen zu sein, die im Rückblick dazu führen können, dass die Vorhersagen nur in seltenen Fällen genau eintreten.

Nielsen und Karlsson resümieren ihre Kritik an den herkömmlichen Szenarios mit der niederschlagenden Aussage:

In der Rückschau zeigt sich meistens, dass Schätzungen zu Ressourcenverfügbarkeit, Energieträgerpreisen, Technologiekosten, Veränderungen der Lebensstile, Energienachfrage, Anpassung der Märkte usw. sich anders darstellen als erwartet, vorgestellt oder gehofft wurde. (Nielsen & Karlsson 2007, S. 313)

Diese dem System innewohnenden treibenden Kräfte in den Mittelpunkt der Szenarioarbeit zu stellen und dabei gerade auf diejenigen zu fokussieren, deren Entwicklung schwer abzuschätzen scheint (in der Literatur als Critical Uncertainties bezeichnet), muss Inhalt belastbarer und solider Szenariostudien sein (Ghanadan & Koomey 2005). Andere Autoren sehen jedoch auch in Zukunft für die Qualität der Ergebnisse keine Verbesserungen. Smil hält dazu im Jahr 2000 fest:

Insofern wird ein neues Jahrhundert kaum einen Unterschied hinsichtlich unserer Möglichkeiten, punktgenaue Vorhersagen zu treffen, bringen: Wir werden mehr Zeit und mehr Geld einsetzen, das Zukunftsspiel zu spielen – aber unsere Vorhersagen werden auch weiterhin falsch sein. (Smil 2000, S. 262)

Eine pessimistische Fundamentalkritik, die die Frage aufwirft, ob Szenarios weiterhin als verlässliche Quelle und Basis für die Ableitung von Strategien dienen können oder ob auf gänzlich andere Werkzeuge der Zukunftsforschung gesetzt werden sollte.

Die Antwort hierauf kann nur sein, dass die Auseinandersetzung mit der Zukunft in Form von Szenarios unumgänglich ist. In der strategischen Planung ist es von zentraler Bedeutung, dass Entscheidungen nicht nur dann richtig sind, wenn eine punktgenaue Vorhersage eintrifft. Vielmehr müssen Entscheidungen getroffen werden, die für eine möglichst große Spannbreite zukünftiger Entwicklungen angemessen sind. Die Szenariomethodik bietet diese Möglichkeit.

2.2.3. Legitimität und Erkenntnisgewinn wissenschaftlicher Zukunftsforschung

Wertneutralität

Es geht also nicht darum, die Szenariotechnik als untauglich zu verwerfen, sondern die mit ihr produzierten Ergebnisse richtig einzuordnen: als hypothetischen Entwurf möglicher Zukunftsbilder. Je nachdem, welche Funktion die Szenarioarbeit einnehmen soll, ist auch eine strikte Wertneutralität für die Zukunftsbilder nicht zwingend. Wissenschaft ist nicht frei von Werten. Bereits die Aufstellung der Kriterien von Wissenschaftlichkeit, also der Spielregeln wissenschaftlichen Arbeitens beruht auf Werturteilen. Auch die Entscheidung, welche Forschungsthemen eine besondere Förderung erfahren, ist de facto eine normative Entscheidung. Problematischer wird es jedoch, wenn Werturteile in wissenschaftliche Aussagen einfließen. In der Auseinandersetzung mit bestimmten Themen lässt sich dieses jedoch nicht vermeiden. Die Energieforschung ist hierfür ein gutes Beispiel. Die Frage nach der zukünftigen Ausgestaltung des Energiesystems, vor allem, auf welche Energieträger dabei gesetzt werden soll, ist derart komplex, dass eine wertfreie Analyse unter Berücksichtigung aller ökonomischen, ökologischen und sozialen Randbedingungen unmöglich erscheint. Untersuchungen in diesem Bereich können daher nur normativen Leitfragen folgen. Studien beleuchten dann einzelne Aspekte wie z. B. die möglichst kostengünstige oder umweltverträgliche Versorgung mit Energie unter Ausblendung anderer Randbedingungen. Dieses soll nicht heißen, dass sich die zukunftsorientierte Wissenschaft unbedarft und unkritisch die Sichtweise außerwissenschaftlicher Akteure aneignen darf. Unter Offenlegung der getroffenen Annahmen und damit der Gewährleistung, dass auch die Werturteile nachprüfbar sind, ist jedoch ein gewisses Maß an Normativität in der Zukunftsforschung unumgänglich und legitim (Schüll 2009).

Überprüfbarkeit

Neben dem Einbezug von Werturteilen in die wissenschaftliche Arbeit lässt sich auch die Gültigkeit der Ergebnisse der Zukunftsforschung infrage stellen. Wissenschaftlichkeit bedeutet Überprüfbarkeit der Ergebnisse. Dieses ist beim Untersuchungsgegenstand der Disziplin ex ante schlicht nicht möglich – ist Zukunftsforschung deshalb beliebig? Auf den ersten Blick erscheint eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der undeterminierten Zukunft nicht möglich. Diese Einschätzung ändert sich jedoch, wenn man sich die Blickrichtung vergegenwärtigt, mit der wir auf die Zukunft schauen. Grunwald spricht in diesem Zusammenhang von der „gegenwärtigen Zukunft“, die im Gegensatz zur „zukünftigen Gegenwart“ steht. Er will damit verdeutlichen, dass das, was wir über die Zukunft aussagen, von der aktuellen Situation geprägt ist. Damit wird sie ein Teil unserer Gegenwart. Zukunft ist das, was wir mit unserer heutigen Sprache und unserem heutigen Wissen über unsere Vorstellungen bezüglich der Zukunft aussagen können. Zukunftsforscherinnen und Zukunftsforscher leiten auf der Basis gegenwärtigen Wissens und gegenwärtiger Relevanzeinschätzungen die Erwartbarkeit des Eintreffens zukünftiger Sachverhalte ab. Zukunftsforschung untersucht damit bestimmte Aspekte der Gegenwart (Grunwald 2009, S. 26ff.).

Wiederum am Beispiel der Energieversorgung lässt sich dieses verdeutlichen. Aussagen zum zukünftigen Energieträgermix beschreiben nicht die „Energie-Wirklichkeit“ im Jahr 2050, sondern lediglich das, was wir uns heute aufgrund der Ressourcenverfügbarkeit, Kostenschätzungen, politischen Zielvorgaben und zahlreicher anderer aktueller Randbedingungen unter einer zukünftigen Energieversorgung vorstellen können. Noch deutlicher wird die Bedeutung der Gegenwart in diesem Themenkomplex, wenn man bedenkt, dass die Energiezukunft der kommenden Jahrzehnte durch infrastruktur-, klima- und energiepolitische Entscheidungen bereits heute in Form gegossen wird.

Die ex ante Falsifizierbarkeit der Ergebnisse wissenschaftlicher Zukunftsforschung scheidet wie oben angesprochen aus. Es gibt jedoch andere Möglichkeiten, die Wissenschaftlichkeit nachzuweisen. Die Qualität des enthaltenen gegenwärtigen Wissens sowie die Intersubjektivität der zugrunde liegenden Einschätzungen bilden die Basis für die wissenschaftliche Beurteilung der Arbeiten der Zukunftsforschung. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügt Zukunftsforschung dann, wenn sie aus den gegenwärtigen Bedingungen nachvollziehbar und transparent die zukünftige Entwicklung konstruiert. Wenn die zugrunde liegenden Annahmen und Einschätzungen dem Diskurs standhalten, erlangen sie wissenschaftliche Geltung (Grunwald 2009).

Ein wichtiger Aspekt hinsichtlich der Überprüfbarkeit von Ergebnissen der Zukunftsforschung ist, dass wir uns inzwischen am Prognosehorizont früher Zukunftsstudien befinden. Es ist uns also möglich, die Treffgenauigkeit dieser Analysen zu überprüfen. Diese Überprüfungen zeigen, dass Fehler in den Projektionen häufig vergleichsweise gering sind (Lechtenböhmer 2008).

3. Energie und Geographie

Die Aktualität der Themen „Ressourcenverfügbarkeit“ und „Energieerzeugung“ könnte suggerieren, dass es sich bei der geographischen Energieforschung um ein neu aufkommendes Thema handelt. Dem ist nicht so, wie Publikationen aus den 1980er Jahren zeigen, die den Zusammenhang von Geographie und Energie thematisieren. Beispielhaft sei hier auf den Sammelband von F. J. Calzonetti und B. D. Solomon aus dem Jahr 1985 verwiesen. In ihm werden Ressourcenaspekte, Standortfragen von Kraftwerken, Energieverbrauchsstrukturen und explizit auch die Möglichkeiten einer Energiegeographie thematisiert (Calzonetti & Solomon 1985). Dieser Sammelband ist vor dem Hintergrund der Ölpreiskrisen zu sehen, die bereits Anfang der 1970er-Jahre die Frage aufgeworfen haben, welche Bedeutung Energiethemen in der geographischen Forschung zukommt. In einem der Beiträge konstatiert Wilbanks jedoch, dass zwar ein Bedarf für die geographische Auseinandersetzung mit Energiefragen erkannt worden sei, dass aber Erfahrungen und Konzepte fehlten, um hier Antworten zu finden. Als diesbezüglich Fortschritte erzielt werden konnten, hatte sich die Dringlichkeit der Fragen jedoch schon etwas abgeschwächt. Wilbanks empfahl daher schon damals, dass sich geographische Forschung weniger aktuellen Krisen, sondern mehr der langfristigen Zukunftsperspektive zuwenden sollte (Wilbanks 1985). Inzwischen ist die Dringlichkeit, sich aus geographischer Perspektive mit Energiefragen auseinanderzusetzen, angesichts des Klimawandels und der fortschreitenden Ressourcenverknappung wieder gegeben, deutlicher als je zuvor.

Entsprechend stellten sich in den vergangenen Jahren auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Geographie verstärkt die Frage, wie das Thema „Energie“ in ihre Forschungsarbeit integriert werden könne. Auch wenn dieses noch immer nicht in dem Umfang geschieht, wie es angesichts der Brisanz der Thematik angemessen wäre (Brühne 2009, S. 40/41). Die Einordnung des Themas erfolgt zudem nach wie vor uneinheitlich. Die sektorübergreifende Bedeutung sowie die Beeinflussung durch zahlreiche Politikbereiche sind es vermutlich, die den Gegenstand für die Wissenschaft so schwer zu fassen machen. Für die spartenübergreifend denkende Geographie könnte gerade hierin jedoch eine Chance liegen (Brücher 1997, 2008, 2009, Brühne 2009, Hamhaber 2010, Schüssler 2008). Das Aufkommen zusätzlicher politischer Themen wie das des internationalen Klimaschutzes gestaltet die Einordnung nicht einfacher. Die erneuerbaren Energien als eine der zentralen Säulen des zukünftigen Energiesystems stehen beispielsweise im Spannungsfeld zwischen Klima-, Umwelt-, Wirtschafts-, Entwicklungs-, Agrar-, Raumordnungs- und Energiepolitik. Dementsprechend orientiert sich Energieforschung allgemein nicht nur an einem dieser Aspekte, sondern versucht den Gesamtzusammenhang des Themas zu erfassen (Hennicke & Fischedick 2007). Nichts anderes sollte die geographische Energieforschung anstreben. Anstatt Bemühungen voranzutreiben, die Energiethematik der einen oder der anderen geographischen Fachrichtung zuzuordnen, müssen vielmehr die Vielfalt und die integrierende Sichtweise als gemeinsame Stärke der Geographie und des Themas „Energie“ erkannt werden (Brücher 1997). Die zentrale Forschungsfrage, die Geographinnen und Geographen dabei zu beantworten haben, ist, welchen gegenseitigen Einfluss Raum und Energiesystem aufeinander nehmen. Modelle der Standortentscheidung, der Bewegung im Raum, der Raumstrukturen und der Mensch-Umwelt-Beziehungen sind allesamt erprobte Konzepte in der Geographie, die sich auf Energiefragen anwenden lassen (Wilbanks 1985).

Zur Systematisierung der Arbeiten in der geographischen Energieforschung wird ein Vorgehen entlang der Energieprozesskette empfohlen (Brücher 1997, 2009, Chapman 1989).

Abb. 1: Energieprozesskette „From Space For Space“. Quelle: Eigene Darstellung (angelehnt an Brücher 2009)

Dieses bietet sich insofern an, als die verschiedenen geographischen Teilgebiete in enger Verbindung zu den einzelnen Elementen der Energieprozessketten stehen. Bei Exploration und Förderung der Energieträger werden Klimageographie und Geomorphologie ebenso relevant wie Vegetations-, Agrar- und Hydrogeographie. Fragen wie „Welche Auswirkungen haben Tagebaue auf den Wasserhaushalt?“, „Wo finden sich geeignete Regionen für die intensive Produktion landwirtschaftlicher Biomasse?“ oder „Welche Folgen hat diese Produktion für die bestehende Agrarstruktur?“ sind nur einige Beispiele, um das enge Wirkungsgeflecht zwischen geographischer Energieforschung und den klassischen Teilgebieten der Disziplin zu verdeutlichen. Ähnliches lässt sich für weitere Glieder der Prozesskette wie Aufbereitung, Umwandlung und Lagerung ableiten. Im Bereich des Endenergieverbrauchs schließlich bestehen zahlreiche Verbindungen zur Bevölkerungs- und Siedlungsgeographie. Das Spektrum relevanter Fragen reicht hier von der Umsiedlung von Bevölkerung im Zuge des Braunkohletagebaus bis hin zu verändertem Mobilitätsverhalten aufgrund des Einsatzes von Elektromobilität. Übergreifende Fragestellungen aus dem Bereich der geographischen Energieforschung betreffen beispielsweise die Politische Geographie, die Wirtschaftsgeographie oder auch die Geo- und Landschaftsökologie. Die folgende Abbildung verdeutlicht, wie die Energieprozesskette die verschiedenen geographischen Teildisziplinen berührt, in deren Mitte als zusammenführendes Element die geographische Energieforschung steht.

Abb. 2: Energieprozesskette und Teildisziplinen der Geographie. Quelle: Eigene Darstellung (angelehnt an Brücher 2009)

4. (Energie-)Geographie und wissenschaftliche Zukunftsforschung

Nun bleibt noch die Frage zu beantworten, inwiefern es gelingen kann, den analytischen Blick von Geographinnen und Geographen stärker in die Zukunft zu richten und Methoden der wissenschaftlichen Zukunftsforschung in die Analysen zu integrieren.

Einleitend wurde darauf verwiesen, dass die Geographie im Wesentlichen damit befasst ist, die Entstehung rezenter Strukturen zu erklären. Die Ausführungen zur wissenschaftlichen Zukunftsforschung haben nun verdeutlicht, wie wichtig es erscheint, die Zukunft bereits im Heute planerisch und gestalterisch in die Hand zu nehmen. Warum also nicht auch die Zukunft aus geographischer Perspektive systematisch, über das obligatorische Kapitel „Ausblick“ hinaus in Angriff nehmen.

Keiner (2005, S. 3) schlägt vor, vorhandene Methoden der Geographie zu erweitern und in Zukunftsszenarios anzuwenden: „Damit die Geographie aber diese […] Rolle spielen kann, muss sie einen neuen Blickwinkel einnehmen: statt von heute in die Vergangenheit zu schauen, muss sie in die Zukunft blicken.“ Nach Einschätzung Keiners ist dies keine Frage des Vermögens, sondern des Wollens. Er belegt anhand einiger Definitionen des Begriffs „Geographie“, wie sehr dieser Wissenschaft das Thema „Zukunft“ zu eigen ist (Keiner 2005, S. 4 f.). Auszugsweise ist hier wiedergegeben, was sich auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG) zur Beschreibung der Forschungsdisziplin findet:

In Anbetracht [der] Herausforderungen [2] kommt Geographinnen und Geographen eine Schlüsselrolle zu. Sie vermitteln Wissen über Problemzusammenhänge, wecken Verständnis und Engagement für Belange der Zukunftssicherung des menschlichen Lebens auf dem Planenten Erde und leisten im Rahmen ihrer fachlichen Kompetenz fundierte Beiträge zur Lösung von Problemen. (DGfG; http:// www.geographie.de/geographie/lang.html; zitiert nach Keiner 2005)

Die Frage nach der zukünftigen Entwicklung ist hier implizit enthalten. Nur die Umsetzung lässt sich in der Deutlichkeit nicht feststellen. Dabei ist durchaus anzunehmen, dass „die Berücksichtigung der ex-ante statt nur der post-ex Perspektive geographischer Forschung […] zu einer besseren Legitimation der Geographie als angewandte, zukunftsorientierte und die Herausforderungen des gesellschaftlichen und globalen Wandels wahrnehmende Wissenschaft führen“ könnte, schreibt Keiner. Er fügt hinzu: „Die Zukunft des Raumes ist zu wichtig, als dass sie in der Geographie weiterhin ein marginales Dasein fristet.“ (Keiner 2005, S. 5).

Ohne Zweifel kann festgehalten werden, dass die Geographie den Blick in die Zukunft annehmen muss. Weitgehend unerprobt ist, wie sich Methoden der Zukunftsforschung auf geographische Fragestellungen anwenden lassen und wie der Einfluss mittel- bis langfristiger Dynamiken auf die Wechselbeziehungen zwischen Raumstruktur und Energiesystem analysiert und dargestellt werden kann. Auf die Energieprozesskette als strukturierendes Element wurde bereits verwiesen – sie eignet sich auch, um Systemvergleiche, beispielsweise zwischen stärker fossil oder regenerativ ausgerichteten Energiesystemen, anzustellen. Zahlreiche, geographisch relevante Parameter lassen sich entlang der Prozesskette identifizieren, deren Beschreibung und Projektion in die Zukunft einen wichtigen Mehrwert für Energieszenarios liefern können.

So, wie Energieszenarios für unterschiedliche räumliche Ebenen (global, national, regional, lokal) entworfen werden, lassen sich auch die raumrelevanten Fragestellungen entsprechend ableiten. Daraus resultierende mögliche Forschungsfragen für einen energiegeographischen Szenarioansatz wären:

  • Wie verändern sich die Import- und Exportstrukturen von Energierohstoffen angesichts stärker regenerativ basierter Energiesysteme? Wie verändern sich Transportwege und internationale Verflechtungen? → Szenarios eines neuen (energie-) geopolitischen Gefüges

  • Welche neuen Konfliktfelder ergeben sich angesichts der absehbar zunehmenden Zentralisierung der Produktion erneuerbarer Energie (Solarkraftwerke, Aufwindkraftwerke, Offshore-Windparks etc.)? → Szenarios zur räumlichen Verortung dieser Konfliktfelder und Ableitung von Alternativen

  • Wie lassen sich Regionen identifizieren, in denen sich nationale energiepolitische Zielsetzungen umsetzen lassen. Mit Blick auf Deutschland ließe sich zum Beispiel fragen: Welche Gebiete eignen sich aufgrund zukünftiger Nachfrageentwicklung, siedlungsstruktureller Bedingungen, bestehender Infrastrukturen und Potenzialen erneuerbarer Energien in besonderem Maße, um die ehrgeizigen Ziele der Bundesregierung im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung und der netzgebundenen Wärmeversorgung umzusetzen? → Szenarios der energie-raumstrukturellen Entwicklung

  • In welcher Form werden die Ausbauziele der landwirtschaftlichen Biomasseproduktion (z. B. in Deutschland) zu raumstrukturellen Veränderungen führen, wenn Produktionsflächen ausgeweitet werden oder sich durch neue Kulturformen (Kurzumtriebsplantagen) das Landschaftsbild verändert? → Szenarios zur Wahrnehmbarkeit der Energiewende auf lokaler Ebene

Der Großteil der Parameter, die in diesen beispielhaften Fragen adressiert werden, ist nicht einfach quantifizierbar und damit auch nicht ohne Weiteres in die gängigen Energieszenarios integrierbar. Aber gerade der Einsatz qualitativer Methoden stellt eine sinnvolle Erweiterung der vergleichsweise abstrakten quantitativen Modellierung und Szenarioentwicklung im Energiebereich dar. Um der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Energiewende Rechnung zu tragen, ist es dringend notwendig, alle betroffenen Akteure – von der Politik über die Energieunternehmen bis hin zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern – in die Gestaltung dieses Transformationsprozesses zu integrieren. Herkömmliche Energieszenarios erreichen ein Abstraktionsniveau, das diese Integration nicht mehr gewährleistet. In einer aktuellen Untersuchung wird daher analysiert, wie sich langfristige Veränderungen der Raumstruktur, des Landschaftsbildes und der Flächeninanspruchnahme durch das Energiesystem in Form qualitativ-narrativer Szenarios beschreiben lassen (Venjakob 2012).

Untersucht wird dieses am Beispiel Polens. Das Land weist ein extrem auf Stein- und Braunkohle basiertes Energieversorgungssystem auf. Seit dem EU-Beitritt und den damit verbundenen energie- und klimapolitischen Vorgaben ist ein immenser Anpassungsdruck entstanden, für den sich unterschiedliche Lösungsstrategien anbieten. Denkbar ist ein Weitermachen mit „sauberer“ Kohle und Kernenergie – angesichts der Potenziale des Landes wäre aber auch ein Umschwenken auf große Anteile erneuerbarer Energie möglich.

Innerhalb der Forschungsarbeit wird der Fokus auf die potenzielle Rolle der landwirtschaftlich produzierten Biomasse gelegt. Polen ist traditionell stark durch die Landwirtschaft geprägt – theoretisch sollten erhebliche Möglichkeiten bestehen, Biomasse zu einer wichtigen Säule der Energieversorgung zu machen. In zwei Szenariopfaden wird dargestellt, welche Folgen ein stark zentral ausgerichtetes System auf der einen Seite und ein eher auf dezentrale Versorgung setzendes System auf der anderen Seite haben könnte.

Entscheidend bei der Szenarioarbeit ist jedoch, dass keine quantitativen Berechnungen zu möglichen Erträgen auf den vorhandenen landwirtschaftlichen Flächen erfolgen, um daraus den Biomasseanteil in der zukünftigen Energieversorgung abzuleiten. Vielmehr handelt es sich bei den Szenarios um zwei Geschichten, die in Polen im Jahr 2050 angesiedelt sind. In diesen Geschichten treffen Protagonisten aufeinander, die gemeinsam reflektieren, welche Entwicklung das Energiesystem des Landes in den vergangenen vier Jahrzehnten vollzogen hat. Sie sprechen über Vor- und Nachteile der Situation, die sich ihnen im Jahr 2050 bietet und erörtern im Gespräch, welches die zentralen Richtungsentscheidungen für die Entwicklung des Energiesystems waren, welche Hindernisse überwunden werden mussten und welches die einflussgebenden Akteure in diesem Transformationsprozess waren.

Da es sich um eine energiegeographische Untersuchung handelt, liegt ein besonderes Augenmerk darauf, inwiefern sich die Ausgestaltung des Energiesystems in raumstrukturellen Veränderungen niederschlägt. Konkret heißt das, dass in einem Szenariopfad beschrieben wird, wie die landwirtschaftliche Biomasseproduktion einen Ansatzpunkt darstellen kann, die starken räumlichen Disparitäten des Landes (mit einer hochgradig ineffizienten ostpolnischen Landwirtschaft) zu überwinden.

Diese Art der Szenarios hat nicht die Funktion, Grundlage für unternehmerische Entscheidungen von Energieversorgern zu sein. Vielmehr nehmen sie eine starke Kommunikationsfunktion ein, um auch fachfremde Personen in die aktuellen Diskussionen um den „richtigen“ Weg in die Energiezukunft einbeziehen zu können. Sie stellen demnach eine sinnvolle Ergänzung zu den üblichen quantitativen Szenariosets dar.

Eine derartige Auseinandersetzung mit geographischen Aspekten in der langfristigen Entwicklung ist neuartig, sieht man von den Planwerken ab, die in der Raumplanung und Raumordnung angesiedelt sind. Raumordnungspläne und -szenarios, Landesentwicklungspläne und -programme, Verkehrs- und Landschaftsplanung, Umweltverträglichkeitsprüfungen und Flächennutzungspläne mögen als Beispiele für eine raumbezogene Auseinandersetzung mit der Zukunft angesehen werden. Die mit diesen Instrumenten abgedeckten Zeithorizonte liegen jedoch deutlich unter dem, was in der wissenschaftlichen Zukunftsforschung als hinreichend postuliert wird. Für die tatsächliche Ableitung von langfristigen geographischen Zukunftsbildern mit den Werkzeugen der Zukunftsforschung wurde mit dem genannten Forschungsvorhaben ein erster Aufschlag erarbeitet, der anregen soll, die Verbindung von Geographie und Zukunftsforschung deutlich stärker in den Blick zu nehmen.

Die bereits aufgeworfenen Fragestellungen müssen dann im Kontext des anstehenden Umbaus des Energiesystems betrachtet werden.

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Dr. Johannes Venjakob: Projektleiter am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH in der Forschungsgruppe „Zukünftige Energie- und Mobilitätsstrukturen“. Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Entwicklung kommunaler und regionaler Klimaschutzstrategien im nationalen und internationalen Kontext.

Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH, Döppersberg 19, 42103 Wuppertal, Tel.: +49 (0) 0202-2492102, E-Mail: johannes.venjakob@wupperinst.org, www.wupperinst.org



[1] Der vorliegende Text enthält Auszüge einer Doktorarbeit mit dem Titel „Qualitativ-narrative Szenarios für die langfristige Entwicklung des polnischen Energiesektors. Eine energiegeographische Untersuchung“, die im April 2012 beim ibidem-Verlag veröffentlicht wurde (vgl. Venjakob 2012).

[2] Gemeint sind Bevölkerungswachstum, globale Umweltveränderungen, soziale und ökonomische Ungleichheit sowie Verknappung natürlicher Ressourcen.

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